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Wie die Haushaltskrise zu den Menschen findet

Freitag, 1. Dezember 2023
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Von Florian Eder

mit Gabriel Rinaldi

Schnelldurchlauf: Neues vom Haushaltsstreit +++ Internet in bewaffneten Konflikten +++ Regierung bei der Klimakonferenz +++ Europäische Beschaffung von Rüstungsgütern? +++ Antisemitische Vorfälle


Guten Morgen und Grüße aus München! Nichts gegen Hamburg oder „Rhein-Main“, wie man dort über den eigenen Lokalteil schreibt. Aber dass mein Schreibtisch im Hauptquartier, wenn es nicht gerade den ganzen Tag schneit, Alpenblick hat, dass es des Hauptquartiers wegen regelmäßig hier etwas zu tun gibt und immer wieder guten Anlass, auch unter der Woche herzukommen, all das sind gute Gründe dafür, dass die SZ amtlich für das attraktivste aller Leitmedien zu halten ist.

Zwischen seinen Terminen im Landtag habe ich gestern Mittag mit Christian Bernreiter, dem bayerischen Bauminister, darüber gesprochen, wie die Haushaltskrise des Bundes auf Bau und Verkehr durchschlägt. Er übernimmt am 1. Januar den Vorsitz der Bauministerkonferenz der Länder. Bernreiter ist einer jener Politiker, die den Leuten lieber weniger versprechen, aber davon mehr umzusetzen versuchen. Dass Bodenständigkeit im hiesigen Wettbewerbsumfeld einmal als riskant gelten muss, wer hätte es gedacht.

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Aus einer langen Reihe von Gründen, die bei seinem CSU-Parteibuch beginnt und bei den Auswirkungen der Berliner Haushaltskrise auf sein Portfolio noch nicht endet, hält Bernreiter wenig von Versuchen, eine weitere Notlage im Bund damit herbeizuargumentieren, dass eben sonst Geld fehlt, das man gern ausgäbe: „Das ist rechtlich keine Notlage“, sagte Bernreiter. „Das ist einfach schlechte Politik.“ Gleich und unten mehr.

Was wichtig wird

1.

Wann kommt der Haushalt 2024? Es war die Masche eines früheren Kollegen, nervigen Blattmachern Geschichten auszureden mit dem Hinweis, Beschlüsse würden weder erwartet noch gefasst. Die Ampel macht es genauso: Wenn wir es recht sehen, kam bei dem Koalitionsausschuss am Mittwochabend nichts heraus; sollte es ja aber auch nicht und was fragen wir überhaupt.

Von Selbst- und Fremdwahrnehmung: Dass Uneinigkeit zwischen den Koalitionspartnern herrscht über den Fahrplan zu einem am besten verfassungsgemäßen, gerichtsfesten Bundeshaushalt 2024, ist wenig erstaunlich angesichts der Dramatik der Karlsruher Entscheidung, die der Ampel jede Geschäftsgrundlage nahm. Wundern kann man sich dennoch, denn die Haushälter der Regierungsfraktionen wiesen vor gut einer Woche noch Fragen genervt zurück, ob die für diese Woche geplante Haushaltswoche stattfinden werde.

Wochenendarbeit für die Regierenden: Am Dienstag war dann Regierungserklärung, aber erklärt hat Bundeskanzler Olaf Scholz nichts: Weder, ob er irgendetwas bedauert, noch, was womöglich interessanter gewesen wäre, wie weiter. Es stünden schwierige und harte Verhandlungen mit den Koalitionspartnern, vor allem der FDP, an, heißt es aus dem Kanzleramt, da habe sich Scholz nicht zu sehr festlegen wollen.

Angestrebt wird eine Grundsatzeinigung nun nach Möglichkeit bis Dienstag. Nur im Erfolgsfall dürfte es noch mit den von SPD und Grünen gewünschten Beschlüssen bis Weihnachten klappen: Mein SZ-Kollege Georg Ismar analysiert hier die Lage, fehlende Beschlüsse hin oder her.

Es sind die besten Zeiten für die Vorzimmer: Scholz kommt Samstag zurück und hat dann bis Montag, mehr oder weniger, um mit Christian Lindner und Robert Habeck die Haushaltsfrage („im Grundsatz“) zu lösen. Am Montag stehen deutsch-brasilianische Regierungskonsultationen an und damit Gastgeberpflichten für Präsident Lula da Silva und 500 Delegierte.

Soweit die Innenansicht. Von außen betrachtet, wie Gesprächspartner selbst in eng befreundeten Regierungszentralen sagen, wirkt die größte Volkswirtschaft Europas seit zwei Wochen so richtungs- wie führungslos.

2.

Wenn Regierungen das Internet abschalten, hat das fast immer mehr Gewalt zur Folge – die dann in der Regel extremer ist und weniger zielgerichtet. Zu diesem Ergebnis kommt Anita Gohdes von der Berliner Hertie School in ihrem neuen Buch „Repression in the Digital Age. Surveillance, Censorship, and the Dynamics of State Violence“, das heute erscheint. Wir haben reingeschaut: Das Buch liest sich wie eine recht aktuelle Ableitung zur Weltlage.

Calling BS: „Viele Regierungen sagen, dass sie das Internet abschalten, um schlimmere Gewalt zu verhindern. Was ich zeigen kann, ist, dass das absolut nicht der Fall ist, sondern dass das eigentlich grundsätzlich mit mehr Gewalt korreliert“, sagte die Politikwissenschaftlerin Gohdes im Gespräch mit SZ Dossier. Sie betont die zentrale Rolle sozialer Medien in modernen Konflikten und identifiziert Zensur, Überwachung und Propaganda als die Hauptwege, über das Internet in Konflikte einzugreifen.

Das ist kein Orchideenthema. Für Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine sind digitale Überwachung und Propaganda von entscheidender Bedeutung. „Wenn Russland verschiedene Städte innerhalb der Ukraine einnimmt oder okkupiert, geschieht fast immer zeitgleich oder sogar noch vorgelagert die digitale Annexion“, sagte Gohdes. „Das bedeutet, die lokalen Internetanbieter werden dazu angehalten, die Daten über russische Anbieter umzuleiten.“

Unterschätzte Technologien: Die Studie zeigt auch, dass die Kontrolle digitaler Infrastruktur ein wichtiger Bestandteil der Kriegsstrategie ist, um die Kommunikation der Opposition zu stören und negative Informationen zu unterdrücken. Gohdes wünschte sich mehr Regulierung und politische Einflussnahme: Standards dafür, wie und von wem vor Überwachungstechnologie genutzt werden dürfe.

Zugänge regulieren? „Wir müssen sichergehen, dass wir nachverfolgen können, wer Zugang zu dieser Technologie hat und wie dieser Zugang hergestellt wurde“, sagte Gohdes. Viele dieser Technologien würden sowohl in Autokratien als auch in Demokratien genutzt werden. „Das bedeutet, wir dürfen das nicht als ein Problem sehen, das woanders passiert, sondern müssen sehen, dass diese Technologie überall eingesetzt werden können und auch werden“, sagte Gohdes. Lesen Sie mehr im heutigen Dossier Digitalwende.

3.

Der Bundeskanzler wird heute zum Auftakt der 28. Weltklimakonferenz in Dubai erwartet. In den Vereinigten Arabischen Emiraten treffen mindestens rund 70.000 Menschen zwei Wochen lang aufeinander – klein ist die Klimaschutz-Szene nicht. Darunter befinden sich auch vier Minister aus dem Scholz-Kabinett: Wirtschaftsminister Robert Habeck, Außenministerin Annalena Baerbock, Umweltministerin Steffi Lemke und Entwicklungsministerin Svenja Schulze. Oder, wie es in einer gemeinsamen Pressemitteilung der Ministerien heißt: „Team Deutschland.“

Willkommen im Club: Kanzler Scholz wird heute „in einer kleinen Zeremonie“ seinen Klimaclub starten, bei dem 32 Mitgliedsstaaten sowie die Europäische Kommission mitmachen. Den Co-Vorsitz wird Chile übernehmen. „Die Idee dieses Clubs ist, dass sich da möglichst viele Länder zusammenfinden, die sich auf gemeinsame Maßstäbe verständigen, wie man CO₂-Bepreisungskosten (…) bemisst, damit nicht neue Zölle, neue Vorkehrungen, neue Handelshemmnisse dadurch entstehen“, sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit.

Knete fürs Klima: Gestern Abend gab die Bundesregierung bekannt, dass Deutschland und der Gastgeber 200 Millionen Dollar (alla romana, hälftig halt) im Rahmen des neuen Loss-and-Damage-Fonds für den Ausgleich von Klimaschäden beisteuern werden; hier berichten die Kollegen der SZ. Das sei ein „großer Erfolg und guter Auftakt zur COP 28 für die internationale Staatengemeinschaft und auch für Deutschland und Bundesministerin Svenja Schulze“, sagte die klimapolitische Sprecherin der SPD Nina Scheer SZ Dossier. 

Das peinliche Thema: Ob Deutschland seine eigenen Ziele und Zusagen aus den vergangenen Jahren trotz der Haushaltskrise einhalten könne? Na ja, am Willen soll es nicht scheitern: „An unseren Klimazielen und Zusagen zur Klimafinanzierung halten wir weiterhin unvermindert fest“, sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes auf Anfrage.

Choose your fighter: Wie die Prioritäten gewählt werden? „Die deutschen Klimaziele werden über den marktwirtschaftlichen Emissionshandel erreicht und sind damit von den Mitteln im Klima- und Transformationsfonds völlig unabhängig“, sagte Lukas Köhler, Abgeordneter der FDP. „Der Emissionshandel schafft zudem Mehreinnahmen, die wir ab 2025 mit dem Klimageld an die Menschen zurückgeben werden.“

Investitionen oder Markt? „Die Einrichtung eines Sondervermögens Klimaschutz und Transformation wäre eine Option“, sagte Scheer, von der SPD. Und die Grünen? Werben dafür, dass die „Programme und finanziellen Zusagen weiterlaufen und wir als Ampel mit gestärkten Klimaschutzinvestitionen aus den aktuellen Beratungen herausgehen“, sagte die Abgeordnete Julia Verlinden SZ Dossier.

Zurück ins Warme: Insgesamt werden laut einem Bericht der Bild mehr als 250 Mitarbeitende der Regierung nach Dubai reisen – davon 40 aus dem Kanzleramt, wie Hebestreit bestätigte. Wie viele Flüge das sind? Dazu konnte das Verteidigungsministerium keine Zahlen nennen – die Mitteilung des Reisezwecks gehöre nicht zum offiziellen Antragsverfahren.

4.

Die Bundesregierung beharrt in Brüssel darauf, dass die Beschaffung von Rüstungsgütern weitgehend in nationaler Hand bleibt – anders gesagt: dass die Europäische Kommission im Zuge eines Reformvorschlags nicht sich selbst zu viele Kompetenzen zuschustern solle. In einem gemeinsam mit Frankreich, Italien und Schweden verfassten internen Papier, das SZ Dossier vorliegt, macht Deutschland klar, dass die Rolle der Kommission keine Führungsrolle sein solle. Im Brüsseler Jargon sagt man non-paper und Schweden hat die Initiative übernommen. 

Industrie wittert Benachteiligung: „Die Rechte der Mitgliedstaaten müssen berücksichtigt werden“, schreiben die vier Länder in dem Memo „zu einer Strategie für die Europäische Verteidigungsindustrie“, über das Politico zuerst berichtete. Was die Kommission in Sachen Verteidigungsintegration vorschlage, müsse „angemessen, notwendig und verhältnismäßig“ sein. Die Debatte wurde ausgelöst von Kommissionsplänen für neue gemeinsame Beschaffungsinstrumente, die im Entstehen sind und im kommenden Jahr vorgestellt werden sollen. Die vier ursprünglichen Unterzeichner, Heimat großer und größter Rüstungshersteller wie Rheinmetall, Dassault, Fincantieri oder Saab, nehmen sie als möglichen Quell der Benachteiligung wahr. 

Warum das wichtig ist: Mehr gemeinsame Beschaffung von Rüstungsgütern in der EU könnte sowohl Geld sparen als auch die Vielzahl der nebeneinander eingesetzten Systeme reduzieren. „Es gibt in Europa mehr Helikoptertypen als es Regierungen gibt, die diese Helikopter kaufen könnten“, sagte der damalige Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker einmal, ein Mahner für tiefere Integration auch im Militärischen. Industrie- und Standortpolitik für die eigenen Rüstungshersteller hat aber einen hohen Wert für Europas Regierungen.

Alles schon da? Eine neue EU-Strategie für die Verteidigungsindustrie solle besser auf bestehenden Initiativen aufbauen, fordert das Papier, dem sich inzwischen nach Angaben von Diplomaten in Brüssel weitere Länder angeschlossen haben. Der Europäische Verteidigungsfonds, gemeinsame Verteidigungsprojekte (im Rahmen des PESCO genannten Herzensvorhabens der heutigen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, als sie noch Bundesverteidigungsministerin war), und die Europäische Verteidigungsagentur trügen bereits zu Vereinheitlichung bei und schafften Anreize für die gemeinsame Beschaffung „ohne den Wettbewerb einzuschränken“, heißt es in dem Papier.

In Kürze: Die EU-Kommission ist zuständig für den Binnenmarkt, der gerade den 30. Geburtstag hatte. Für Rüstungsgüter gelten Ausnahmen, und auf die pochen die Mitgliedsstaaten.

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Tiefgang

Bayerns Bauminister fürchtet schwere Auswirkungen der Berliner Haushaltskrise auf die Bauwirtschaft, und damit auf den Wohnungsbau in Deutschland. „Die Lage ist dramatisch“, sagte Christian Bernreiter gestern im Interview. Er ist zuständig für Wohnen, Bau und Verkehr – alles Bereiche, auf die die Budgetkrise heftig durchschlägt. „Die Bauwirtschaft steht vor dem Kollaps und braucht Sicherheit und Vertrauen. Da muss der Bund so schnell wie möglich für Klarheit sorgen.“

Bernreiter wird ab Januar für zwei Jahre der Bauministerkonferenz der Länder vorsitzen, die erst vergangene Woche einstimmig gefordert hatte, die Bundesregierung müsse das Schlamassel nun rasch klären und sowohl für sozialen Wohnungsbau als auch für die Städtebauförderung Mittel „mindestens im Umfang des laufenden Jahres“ zur Verfügung stellen. Allein, es sieht nicht danach aus: „Das ist in der Schwebe, es hängt ja vom Haushalt 2024 ab“, sagte Bernreiter. „Und dann haben wir ein aktuelles Problem, wo sich das schon auswirkt.“

Die Förderbank des Bundes stellt erste Förderprogramme ein: „Die KfW hat unter Verweis auf die Haushaltssperre bereits vier Bundes-Förderprogramme auf Eis gelegt“, sagte Bernreiter. „Für diese Programme darf nichts mehr genehmigt werden, auch wenn die Förderanträge schon gestellt sind, und neue Anträge dürfen nicht mehr gestellt werden. Das ist Gift für die Baukonjunktur, weil es zur weiteren Verunsicherung beiträgt.“

Straße, Schiene, Wasserstraßen, der Hochbau des Bundes: Betroffen sind alle Bereiche. Für politisch am sensibelsten hält Bernreiter den Wohnungsbau, übrigens ein zentrales Wahlkampfversprechen des Bundeskanzlers, was der CSU-Minister im Gespräch gar nicht erwähnt – der Schaden ist nicht auf eine Partei beschränkt. Die Krise könnte das Vertrauen in Regierungshandeln überhaupt weiter erschüttern, so die Furcht nicht nur in München.

Bernreiter, lange Landrat im niederbayerischen Deggendorf, wo nun sein Wahlkreis ist, diente seiner Partei im gerade zurückliegenden Landtagswahlkampf als Gegenprogramm zu Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger: Ebenso nah an den Leuten, aber nicht nur laut im Bierzelt, sondern auch verlässlich in der Umsetzung von Politik, so das Versprechen. Im Kampf um die Erststimme war das recht erfolgreich; aber auch nur da.

Hier kommt die Krise: „Vordergründig sind die Auswirkungen der Haushaltskrise im Bund auf den Wohnungsbau am dramatischsten, weil es die breite Masse der Menschen betrifft“, sagte Bernreiter. „Wenn die KfW-Mittel gestoppt werden, das merkt der Bürger als Erstes. Dass für Straßen kein Geld da ist, merkt man erst zeitversetzt.“ 

Im Straßenbau „sind alle noch nicht in Anspruch genommenen Verpflichtungsermächtigungen gesperrt“, sagte Bernreiter. „Das ist unseren Bauämtern sofort mitgeteilt worden.“ Auch der Ausbau der Fahrrad-Infrastruktur ist betroffen: „Beim Sonderprogramm Stadt und Land – dem Radnetz – passiert zwar nichts, aber im Förderprogramm Radnetz Deutschland können ab sofort keine Anträge mehr bewilligt werden“, sagte er. „Dasselbe gilt für Fahrrad-Parkhäuser an Bahnhöfen. Da haben wir dank dem Bund jetzt auch ein Problem.“

Was für die Schiene gilt – zunächst die gute Nachricht: Das Deutschlandticket und laufende Regionalisierungsmittel für den Schienenpersonennahverkehr „sind ungefährdet“, sagte Bernreiter: Da ist der Bundesanteil für das laufende Jahr schon vereinnahmt und „da sehen wir, zumindest derzeit, keine akute Gefahr.“

Wo schon Risiko besteht, ist da, wo Bahnkunden sich Investitionen am meisten wünschen würden. „Gefahr gibt es für das 40 Milliarden Euro schwere Sonderprogramm Schieneninfrastruktur – es ist völlig unklar, ob geplante Hochleistungsstrecken umgesetzt werden können oder nicht“, sagte Bernreiter. Es ist ein Zukunftsplan, oder sollte einer sein – „aber ohne die Absicherung in Haushalten sind es eigentlich nur Absichtserklärungen“, sagte Bernreiter. „Da haben wir offene Fragen, die muss die Bundesregierung jetzt lösen.“

Fast übersehen

1.

Antisemitische Vorfälle: Seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober sind die antisemitischen Vorfälle in Deutschland stark gestiegen, auf im Durchschnitt 29 Vorfälle am Tag. Die Meldestelle Rias zählte in ihrem Bericht bis zum 9. November 994 verifizierte Vorfälle. 

Wehrhafter Staat? Konstantin von Notz, der Grüne Vorsitzende des Parlamentarischen Kontrollgremiums, sagte SZ Dossier, der Bericht spiegle die „subjektive und objektive Sicherheitslage“ wider. „Das Sicherheitsrisiko für Jüdinnen und Juden in Deutschland ist erheblich gestiegen und die Betroffenen nehmen das klar wahr“, sagte der Innenpolitiker. 

Bei Betrachtung von Teilen der öffentlichen Diskussion mache er sich große Sorgen. Was man gegen Antisemitismus tun könne? Es sei unfassbar, dass man bei den Verboten der Artgemeinschaft und Samidoun so lange gewartet habe. Wie von Notz weiter ausführte, müsse der Staat sehr viel schärfer gegen Antisemitismus vorgehen und insgesamt wehrhafter werden.

Rekordanstieg bei Vorfällen: Unter den 994 antisemitischen Vorfällen finden sich drei Fälle extremer Gewalt, 29 Angriffe und 72 gezielte Sachbeschädigungen. Bei 854 Fällen handele es sich um „verletzendes Verhalten“, etwa antisemitische Äußerungen. Seit Bestehen des Bundesverbands Rias habe es noch nie einen solchen Anstieg gegeben, sagte Rias-Sprecher Marco Siegmund. Der Bericht zeige auch eine neue Qualität: Es sei auffällig, dass viele Jüdinnen und Juden von Vorfällen im Alltag berichten – etwa in der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz oder an Hochschulen. So wurden 37 antisemitische Vorfälle an Hochschulen dokumentiert, 59 Vorfälle fanden im Wohnumfeld statt.

Information und Desinformation: Die Meldestellen registrierten im Auswertungszeitraum 177 antisemitische Versammlungen. Die Verbreitung von Desinformation trage zur Mobilisierung bei. Der Bericht nennt die Explosion am Al-Ahli-Krankenhaus als Beispiel. Hier habe sich die Zahl antisemitischer Versammlungen zur Vorwoche auf 61 verdoppelt. Aber auch die Sensibilität ist hoch: Die RIAS-Stellen berichten von einem anhaltend hohen Meldeaufkommen.

2.

Ist der Ruf erst ruiniert: Mit seinem Geständnis ermöglichte sich der Sänger Gil Ofarim diese Woche einen glimpflichen Ausgang des Leipziger Verleumdungsprozesses gegen ihn. Ob sein „guter Ruf“ sich dadurch wiederherstellen lassen wird, wie der Vorsitzende Richter ihm in Aussicht stellte? Es ist uns herzlich egal, aber Zweifel sind angebracht.

Der Schaden ist da: Der Zentralrat der Juden rief Ofarim nach der Einstellung des Verfahrens zu, er habe „all denen, die tatsächlich von Antisemitismus betroffen sind, großen Schaden zugefügt“. Das Geständnis lief darauf hinaus, er habe sich den Antisemitismusvorwurf gegen einen Hotelmitarbeiter einfach ausgedacht, des größtmöglichen Empörungspotenzials wegen; in Wirklichkeit hat er sich wohl bloß über das Ausbleiben eines Promi-Bonus beim Check-in geärgert.

Winner is … the Westin: Weniger als Ofarims Ruf hat am Ende der des Westin in Leipzig gelitten, das sich seit dem Vorfall 2021 dem eigenen Mitarbeiter gegenüber loyal verhalten hat – mitten im heftigen Sturm, gegen Kritik bis hinauf zum damaligen Bundesaußenminister Heiko Maas, gegen dringende Erwartungen des Zentralrats selbst, der 2021 eine „deutliche Entschuldigung“ des Hotels gefordert hatte.

3.

Wo wir einmal bei der Frage sind: „Absolut, jedem Medienhaus wie auch allen Parteien“, antwortete Jürgen Trittin auf die Frage der Zeit, ob sich andere Medien am Haus Springer insofern ein Vorbild nehmen sollte, als sich dort viele Journalisten dem Grundsatz verpflichten: „Wir unterstützen das jüdische Volk und das Existenzrecht des Staates Israel.“

Ein bisschen Liebe: Andere Springer-Grundsätze sind in der Sache übrigens ähnlich unkontrovers; wer als Journalist etwa die Marktwirtschaft abschaffen will, wird vielleicht nicht sehr glücklich in Medienhäusern, die Leserinnen, Abonnenten und Werbekunden brauchen, um ihren Journalismus zu finanzieren. In den gängigen sozialen Netzwerken freuten sich Springer-Kollegen über den Zuspruch von ungewohnter Seite und manche fanden sogar auf einmal den Grünen Außenpolitiker Trittin gut, der im langen Nahost-Doppelinterview mit Paul Ronzheimer von der Bild den Satz hat fallen lassen. 

Da könnt ja jeder kommen: Der vor wenigen Wochen gewählte neue Vorsitzende des Deutschen Journalistenverbandes Mika Beuster erklärte, er verbitte sich „Belehrungen aus der Politik“ und Trittin solle lieber seine eigene Arbeit machen: Das Privileg und Monopol, andere ungefragt zu belehren, beansprucht unsere Standesvertretung schon für den Journalismus selbst.

Deutschland in Daten

Viele Syrer in Deutschland eingebürgert
in Kooperation mitStatista

Zitat des Tages

Sie sind ein Klempner der Macht. Ihnen fehlt jede Vorstellung davon, wie dieses Land sich in den nächsten Jahren weiterentwickeln soll. Sie haben keine Ahnung von dem, was da in den nächsten Jahren auf Sie und auf uns zukommt.

Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) nach der Regierungserklärung zu Olaf Scholz, der daraufhin auf X konterte, Klempner packten an und seien unverzichtbar

Zu guter Letzt


Der Kanzler-Deepfake ist nun bald fünf Tage online. Der Fall zeigt gut, wie machtlos Staaten dem Treiben auf den großen Plattformen gegenüberstehen. Wie meine Kollegen beim Dossier Digitalwende recherchierten, hat die Bundesregierung Youtube, X, Facebook und Instagram längst gebeten, das Video runterzunehmen. Vor Gott und den Plattformen sind alle Menschen gleich: Mehr als Inhalte melden geht nicht, wenn einen was stört – gilt wohl auch für Regierungen und Staatschefs.

Deutscher Durchgriff? Instagram kam der Bitte mittlerweile nach, die Regierung argumentierte mit Markenrecht (es wurde das Logo des Bundeskanzleramts verwendet). Bei Youtube wurde das Video kurzzeitig ebenfalls gelöscht, dann aber ohne Logo einfach wieder hochgeladen. Auf Facebook und X blieb das gefälschte Video durchgehend online. Die Gruppe Zentrum für politische Schönheit, die hinter dem Deepfake steckt, zieht sich auf die Position zurück, dass es sich bei der Aktion um Satire handle. Dort spricht man von Zensur und will nun wiederum rechtlich gegen die Bundesregierung vorgehen.

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Florian Eder

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