Für von der Leyen beginnt der Wahlkampf erst
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Montag, 10. Juni 2024
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Von Florian Eder

mit Gabriel Rinaldi, Tim Frehler und Valerie Höhne

Schnelldurchlauf:

So hat Europa gewählt: Provisorische Mehrheit +++ Zur Mitte geht's nach rechts +++ Koalition in Panik: Mit der Ruhe ist es vorbei +++ Aufstieg, Abstieg, Rücktritt: Andere Länder, andere Sitten +++ Junge wählen rechts, AfD und BSW jubeln +++ Ein Blick auf die Kommunalwahlen



Guten Morgen. Drei Dinge folgen aus dem gestrigen Abend unmittelbar: Erstens braucht auf eine starke gestaltende Stimme des Bundeskanzlers in den kommenden europäischen Beratungen über Prioritäten und Personal niemand zu zählen. Die Kollegen und Kolleginnen Regierungschefs wissen das deutsche Bruttoinlandsprodukt zu lesen, Wahlergebnisse aber auch.


Zweitens ist Olaf Scholz nicht allein: Emmanuel Macron kommt mit ebensolchen Blessuren nach Brüssel. So sehr die Staats- und Regierungschefs darauf Wert legen, dass ihre Entscheidungen mit dem Wahlergebnis zum Europaparlament nur lose zusammenhängen, so wissen sie doch selbst, wer steigt und wer fällt: Fortunae rota volvitur. Nach oben fahren Giorgia Meloni und Donald Tusk.


Drittens: Die nächsten Wochen der Haushaltsberatungen in Deutschland für 2025 werden zeigen, ob die Koalition bis nächstes Jahr hält oder doch schon jetzt zerbricht. Das Ergebnis der Europawahl in Deutschland hat der Ampel, nebenbei, das anfangs oft gehörte Argument aus der Hand genommen, wonach ihr Scheitern zur Gefahr für die Stabilität des Landes führen würde.


Wir schauen uns das heute genauer an, in einer Ausgabe, die sich eingehend mit der Europawahl beschäftigt. Willkommen am Platz der Republik.


Zum Weiterlesen: Hier die Ergebnisse aus ganz Europa. Das ganze Programm der Kolleginnen und Kollegen von der SZ hier auf einer Themenseite und immer das Neueste, samt den je aktuellen Ergebnissen aus Deutschland und Europa, im Liveblog. Wer heute Abend in München ist: 17 Uhr, Salon Luitpold, und wir besprechen die Folgen persönlich. Anmeldung für die letzten Plätze hier.

Was wichtig wird

1.

Provisorische Mehrheit

Der Wahlgewinner ist eindeutig. Nach vorläufigen Ergebnissen kann die Europäische Volkspartei ihren Status als größte Fraktion ausbauen: Allein mit bisherigen Mitgliedsparteien erreicht sie einen deutlichen Zuwachs von 13 Sitzen im 720 Abgeordnete starken Europaparlament, auf 189. Das war der letzte Stand, bevor das Europaparlament gegen 2 Uhr die Aktualisierungen einstellte.


Zweiter, Dritter, abgehängt: Die Sozialdemokraten können demnach ihr Ergebnis fast halten und mit 135 Abgeordneten rechnen – und damit, anders als 2019, wiederum ihre Verfolger deklassieren: Die Liberalen recht verschiedener Obödienzen, die sich unter dem Namen Renew Europe versammeln, verlieren ein Fünftel ihrer Sitze und kommen noch auf 83.


Koalition VDL I: Damit steht eine Mehrheit für eine Art informelle Koalition der Mitte, auf die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sich zwar nicht verlassen konnte, aber doch stützte. Die datengestützte Hoffnung der EVP ist, dass sie diesmal mehr Gewicht und Einfluss geltend machen kann.


Mehrheit unter neuen Vorzeichen: Die EVP fühlte sich 2019 verraten, weil die Spitzenkandidaten-Idee Sozialisten und Erneuerern dann doch nicht so heilig war wie ein Wort aus dem Mund von Pedro Sánchez respektive Macron. Die Christdemokraten haben sich daher umgeschaut und eine theoretische Machtoption rechts von ihnen entdeckt und gepflegt.


Zählen wir nach: 407 Stimmen wären das im neuen Parlament, 46 mehr als nötig für eine absolute Mehrheit. Damit könnte sich von der Leyen (wenn, falls, siehe unten) elf Prozent Abweichler leisten.


Das wird nach aller Erfahrung zu riskant sein. Glauben Sie mir, wir sind in Europa, Fraktionsdisziplin kennen die meisten nur aus ferner Erinnerung an die Mitgliedschaft in anderen Parlamenten. Da muss also noch etwas passieren. Die EVP könnte etwa noch neue Mitglieder bekommen, Vorabsprachen bestehen bereits. Die Grünen empfahlen sich gestern dringlich als staats- und VDL-tragend, und wer weiß, welche Konservativen sich gern konstruktiv einbrächten.


Es wird sich da noch etwas bewegen: Fraktionen sind fluide in einem System mit 27 nationalen Wirklichkeiten, und wer neu ist oder aus der Fraktion geflogen wie die AfD oder Viktor Orbáns Fidesz, muss sich erst neu orientieren oder mit dem Paria-Status eines Non-Inscrit abfinden.


Rechts ist nicht gleich rechts: Der erwartete Rechtsruck trat ein, angeführt von Frankreichs Rassemblement National. Die AfD wurde zweite Kraft in Deutschland. Wenn alle rechts von der EVP sich zusammentäten, sie könnten das gesamte Feld anführen – theoretisch, denn nicht nur streben die einen zur Mitte wie Le Pen und die anderen immer weiter zum rechten Rand wie die AfD. Sie haben auch starke ideologische Unterschiede: im Umgang mit Russland, mit China, mit der EU.

2.

Zur Mitte geht's nach rechts

Damit nach Deutschland. Die Union hat sich deutlich abgesetzt von den anderen Parteien, Demokraten oder nicht; doppelt so viele Stimmen wie die SPD, so viele, wie die Ampel zu dritt zusammenkratzen konnte.


Bye, Felicia: Für die CDU endete damit gestern auch die Ära Merkel. Wo die Partei sich unter ihrer langjährigen Vorsitzenden (erfolgreich) die Mitte als nach links hängend vorstellte, ist diese Überzeugung nun abgelöst worden, in einer bundesweiten Wahl, was als Stimmungstest daher schon taugte, der neuen Führung auf jeden Fall.


Die Mitte ist weiter nach rechts gewandert, über Fragen von Einwanderung, Sicherheit und Lebensstil. Das Ergebnis ist ein Erfolg für diejenigen, die das erkannten und entsprechend agierten, wie auf EU-Ebene der EVP-Chef Manfred Weber und in Deutschland Friedrich Merz. Für ihn ist das Ergebnis kaum weniger entscheidend als für Weber, der sein Wahlziel erreicht hat: Gegen und ohne die EVP wird nichts gehen im neuen Europaparlament.


Die S-Frage: Die üblichen Verdächtigen werden noch Anlass und Gelegenheit finden, sich den Erfolg gegenseitig zu missgönnen. Die CSU etwa schnitt besser ab als bei der bayerischen Landtagswahl (Punkt für Weber), aber leicht schlechter als vor fünf Jahren, was Markus Söder registriert haben wird. Und dass die CSU in Bayern aus dem Absturz der Ampel deutlich mehr zu machen in der Lage ist als die CDU im Rest des Landes, wird kaum zu schrumpfendem Selbstbewusstsein beim CSU-Parteivorsitzenden führen.


Die Ampel wird von ganz allein streiten. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann stellte die Frage, ob der Bundeskanzler „überhaupt die Legitimation“ hat, das Land zu führen – „eigentlich müsste er die Vertrauensfrage stellen im Bundestag“, sagte er, recht großzügig abgetönt. Deutlich aber war Söder: Er forderte rasche Neuwahlen und sagte am Abend im ZDF, er würde dann auch „zustimmen, dass wir uns rasch einigen“ auf einen Kanzlerkandidaten.

3.

Koalition in Panik

„Ich bin sehr dafür, dass wir die FDP vor die Frage stellen, ob sie noch Kompromisse machen will oder nicht“, sagte der Bundestagsabgeordnete Axel Schäfer der SZ und drängte Scholz dazu, angesichts der eigenen Niederlage die Koalitionsfrage zu stellen – der FDP. „Ich glaube, der Haushalt ist die Stunde der Wahrheit“, sagte er. Fehler machen immer die anderen: Es dürfe am Ende nicht so sein, dass Herzensanliegen der SPD nicht zu bezahlen seien „und die FDP mit der Schuldenbremse durchkommt“.


Mit der Ruhe in der Koalition ist es vorbei, in der SPD vor allem. Es war risikoreich für die SPD, die Europawahl zu einer Abstimmung über die Europa-, die Sicherheits- oder „Friedens“-Politik des Bundeskanzlers zu machen.


Wer war’s nochmal? Ob nun die Leute Scholz den postulierten großen Einfluss auf den Gang der Dinge in Brüssel („Deutschlands stärkste Stimmen“) nicht abnahmen oder mit den Themen und Inhalten seiner Kampagne nichts anzufangen wussten, werden sich die Großstrategen noch anzuschauen haben. Das Scheitern aber SPD-Spitzenkandidatin Katarina Barley oder EU-Frontmann Nicolas Schmit anzuhängen, trauten sich noch die Forschesten nicht. Barley stand gestern im Foyer des Willy-Brandt-Hauses, eine Gruppe junger Sozialdemokraten prostete ihr mit vollen Sektgläsern zu. „An Dir lag's nicht“, sagte einer.


Es macht keinen Unterschied für das Drama: Die Kanzlerpartei kommt in einer bundesweiten Wahl rund 15 Monate vor der nächsten Bundestagswahl nur auf Platz 3, landet hinter der AfD. Bei einer bundesweiten Wahl war die SPD noch nie so schlecht.


Am Wahlabend waren erste Risse in den Beschwörungen zu hören, die Menschen würden sich schon für den Bewährten und „Besonnenen“ entscheiden, wenn sie nur vor die Wahl zwischen Scholz und Merz gestellt würden. Die Frage, ob die Bundesregierung eine neue, womöglich nicht zu heilende Wunde davon getragen hat, teilt der Sozialdemokrat Schäfer allerdings mit den Verantwortlichen der Union.


Ist es drinnen oder draußen kälter? Für die FDP stellt sich wieder die Frage. Wenn, dann soll es jedenfalls nicht die SPD anstoßen: „Erstens wird keine Vertrauensfrage gestellt“, sagte Bijan Djir-Sarai in der ARD und hatte eine Geheimformel parat, die er auf die knapp fünf Prozent anwandte: Es kämen „sieben oder acht“ heraus, wenn die Wahl eine zum Deutschen Bundestag gewesen wäre, sagte er. Die Formel verriet er wohlweislich nicht.


Die Grünen litten leise. Ein Minus von acht Prozentpunkten auf nur noch zwölf Prozent sorgte für Trauer in Berlin und für eine Annäherung an die EVP in Europa. Co-Fraktionschef Bas Eickhout beteuerte, die Grünen wollten an Gesprächen zur Bildung einer Koalition im Europäischen Parlament beteiligt werden und verbat sich konservative Fragen an die Zuverlässigkeit seiner Partei. „Wir sind bereit für Kompromisse, wir sind bereit Verantwortung zu übernehmen“, sagte Grünen-Chefin Ricarda Lang.


Zu Hause hinterfragten die ersten die Struktur der vielen Köpfe. Zwei Fraktionsvorsitzende, zwei Parteivorsitzende, dazu Außenministerin Annalena Baerbock und Wirtschaftsminister Robert Habeck. Es gibt Grüne, die glauben, sie müssten nun vor allem mehr Sozialpolitik machen, andere, siehe den Vorstoß zum Lieferkettengesetz von Robert Habeck, sehen das gänzlich anders. Ist die Sechserrunde, bei den Grünen das mächtigste informelle Gremium, noch zeitgemäß? Sie hat viel zu besprechen, inklusive Nabelschau.

4.

Aufstieg, Abstieg, Rücktritt

Macron löst Parlament auf: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat die Wahl nicht viel dramatischer verloren als Scholz und zeigte dem Kollegen nebenbei, wie Analyse und Aufarbeitung auch gehen können. Seine Liste kam auf etwa 15 Prozent der Stimmen, weniger als die Hälfte des Rassemblement National von Marine Le Pen. Er könne nicht so tun, als sei nichts passiert, sagt Macron und ordnete eine Neuwahl des französischen Parlaments an. „Ich habe Ihre Botschaft und Ihre Bedenken gehört und werde sie nicht unbeantwortet lassen“, sagte er den Französinnen und Franzosen.


Vom Wahlrecht und was es bewirkt: Die erste Runde wird am 30. Juni stattfinden, die Stichwahl am 7. Juli. Anders als bei der Wahl zur Assemblée Nationale gilt für das Europaparlament (in ganz Europa) Verhältniswahlrecht. Das ist ein Grund dafür, dass die seit Jahrzehnten als „republikanische Front“ bekannte Übung, in der zweiten Runde für den schärfsten Konkurrenten des jeweiligen Le-Pen-Kandidaten zu stimmen, bei der Europawahl nicht funktioniert. Dafür legt letztere alle fünf Jahre die Kräfteverhältnisse offen.


Meloni gewinnt, Salvini verliert: Premierministerin Giorgia Meloni, die selbst für ihre Fratelli d'Italia kandidiert hatte, hat in Italien gewonnen. Im Jahr 2019 erhielt Meloni noch sechs Prozent, Hochrechnungen deuten nun auf ein Ergebnis von mehr als 28 Prozent hin. Die Lega von Matteo Salvini, vor fünf Jahren fulminanter Wahlsieger, verliert weiter und könnte hinter Forza Italia zur kleinsten Kraft innerhalb der Koalition werden. Meloni zementiert ihre Führungsposition im rechten Block, Salvini steht zunehmend unter Druck.


Schau her, SPD: Einen Achtungserfolg legen die italienischen Sozialdemokraten des Partito Democratico hin, die hinter Meloni mit einem Ergebnis von rund 24 Prozent auf dem zweiten Platz landen. Ein deutlich schlechteres Ergebnis von etwas mehr als zehn Prozent erhielt die populistische Fünf-Sterne-Bewegung.


Tusk deklassiert PiS: Der polnische Premierminister Donald Tusk und seine christdemokratische Partei namens Bürgerkoalition haben die Wahl der polnischen Abgeordneten des Europaparlaments deutlich gewonnen. Tusks Partei erhielt rund 38 Prozent der Stimmen, die oppositionelle Recht und Gerechtigkeit (PiS) 34 Prozent.


Starker Mann: Es ist das erste Mal seit 2015, dass Tusks Partei alleine, ohne Koalitionspartner, das Rennen gegen die PiS gewinnt. Das Ergebnis stärkt Tusks Position als Führungskraft der EVP in Europa weiter.


Wenn das der Standard für Rücktritte würde: „Für uns war es ein besonders schwieriger Abend, wir haben verloren. Ab morgen bin ich ein zurücktretender Premierminister“, sagte Belgiens Alexander De Croo. Seine flämischen Liberalen kamen auf nicht einmal sechs Prozent, ein Rückgang um drei Punkte im Vergleich zu 2019. Auch der Parteivorsitzende kündigte seinen Rücktritt an. De Croo wird geschäftsführend im Amt bleiben, bis eine neue Regierung gebildet ist. Das kann dauern, soll es aber nicht: „Ich bin überzeugt, dass wir schnell eine neue Regierung mit vollen Befugnissen brauchen“, sagte er. „Das Signal der Wähler ist eindeutig.“

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Tiefgang

Für von der Leyen beginnt der Wahlkampf erst

Die Stimmen sind ausgezählt und während wir auf Endergebnis und endgültige Sitzverteilung warten, beginnt der zweite Wahlkampf mit aller Macht: der um die Spitzenjobs in der EU.


361 Stimmen braucht Ursula von der Leyen im Europäischen Parlament. Eine Mehrheit gäbe es. Ihre EVP baute schon am Wahlabend Druck auf Sozialdemokraten und Liberale auf, zusammen würde es reichen. Von der Leyen „muss jetzt Kommissionspräsidentin werden“, sagte EVP-Chef Weber am Abend im ZDF. An Scholz und Macron habe er „die klare Erwartung, das Wahlergebnis zu respektieren und Ursula von der Leyen zu unterstützen“.


Die wenig subtile Botschaft: Dann brauchte es auch Melonis rechte Stimmen nicht, außer eben als handliche Daumenschrauben für die linke Mitte.


Zuvor aber muss von der Leyen nominiert werden, vom Europäischen Rat – mit der Besonderheit, dass es dabei auch eine innenpolitische Machtprobe zu bestehen gilt. Ihre CDU muss dem Bundeskanzler eben abringen, dass er von der Leyen nicht nur mitträgt, sondern vorschlägt. Es ist der erste Machtpoker, der zu gewinnen ist. Die Aufmerksamkeit im Team von der Leyen verlagert sich ab heute weg vom Parlament – fürs Erste.


Vom 13. bis 15. Juni tagen die Staats- und Regierungschefs der sieben größten Industrienationen im apulischen Fasano. Die EU-Mitglieder der Runde – neben Gastgeberin Meloni der französische Präsident, deutsche Bundeskanzler sowie Ratspräsident Charles Michel und von der Leyen – gehören zu den einflussreichsten Köpfen in der EU-Personalpolitik; Abtasten ist angesagt. Aber es fehlt ein EVP-Schwergewicht in der Runde, die damit nicht einmal informell beschlussfähig ist.


Beim letzten Mal kam es bei ähnlicher Gelegenheit sogar zu einer Art Lagerkoller: 2019 fand kurz nach der Wahl der G-20-Gipfel in Osaka statt. Dort verfiel Angela Merkel der Idee, den sozialdemokratischen Wahlverlierer Frans Timmermans zum Kommissionspräsidenten zu machen, was das Spitzenkandidaten-Prinzip ebenso radikal, halt auf andere Weise, ins Absurde transponiert hätte. Ihre EVP redete ihr das nach der Rückkehr aus Japan sehr entschlossen aus.


Am 17. Juni treffen sich die Staats- und Regierungschefs der EU zu einer „informell“ genannten Runde; so müssen sie beim ersten Austausch nicht unbedingt zu Ergebnissen kommen im großen Karussell der Spitzenämter.


Es sind Spannungen aufzulösen zwischen dem Sendungsbewusstsein des Europäischen Rates und der Funktionalität seiner Entscheidungsfindung; zwischen Rat und Parlament; zwischen den großen europäischen Parteien und zwischen ihnen allen auf der einen Seite und Emmanuel Macron, der ihren Einfluss minimieren möchte.


Die EVP besetzt inzwischen wieder fast die Hälfte der Stühle im Europäischen Rat und will mit dem Wahlergebnis im Rücken etwas daraus machen, wie Regierungsberater sagen, mindestens den ersten Zugriff, wenn nicht mehr. Die stärksten Figuren der EVP sind die Premierminister Tusk aus Polen und Kyriakos Mitsotakis aus Griechenland.


Aber für eine Mehrheit im Parlament muss das ganze Paket stimmen. Und auch die geografische Balance gehört respektiert, das heißt, auch jemand aus Zentral- oder Osteuropa soll etwas (bloß nicht zu viel) werden. Spannungen sind wenigstens belustigt auszuhalten zwischen von der Leyen und Michel. Er zählte sie neulich öffentlich an und tat ihr damit angesichts seines eigenen Standings, wer weiß, einen Gefallen.


Am 27. und 28. Juni tagt der Europäische Rat dann in formeller Sitzung mit dem Ziel, ein Personalpaket zu verabschieden. Das enthielte seinen Vorschlag ans Parlament für die Kommissionspräsidentschaft (es reicht eine qualifizierte Mehrheit der 27), einen Namen für die Nachfolge des EU-Außenbeauftragten Josep Borell, und nicht zuletzt jemand für den Vorsitz des Gremiums selbst.


Außerdem will der Europäische Rat bei der Gelegenheit seine strategische Agenda für die kommenden fünf Jahre verabschieden, also Auftrag und Wunschliste an die neue Kommission, die in der Praxis dann erst noch mit den Bedingungen des Europaparlaments abzugleichen ist.


Am 16. Juli konstituiert sich das neue Europäische Parlament. Bis dahin werden die Meinungsführer Deals verhandelt und geschlossen haben, Fraktionen sich durch Ein- oder Austritt schon vorläufig neu formiert, einen Umgang miteinander und ein institutionelles Auftreten gefunden oder sich, wie 2019, vom Rat diktieren lassen, was sie nun zu tun hätten.


Der Wunsch der bisherigen Führung um Präsidentin Roberta Metsola: Schon in der ersten Sitzungswoche, am 18. Juli, soll über den Ratsvorschlag zur Kommissionspräsidentschaft abgestimmt werden.

Von der Attraktion der Ränder

5.

Rechte Jungwähler: In der Gruppe der 16- bis 24-Jährigen sind CDU und AfD mit jeweils 17 Prozent die stärkste Kraft. Dahinter folgen laut Forschungsgruppe Wahlen die Grünen mit elf Prozent und SPD und Volt mit neun Prozent. Die Linke kommt auf sieben, FDP und BSW auf jeweils sechs Prozent. Den größten Block aber bilden die sonstigen Parteien, die bei den Jungen auch ohne Volt auf 18 Prozent kommen.


Volt ist die liberale Partei der Jungen: Bei ihnen holte sie neun Prozent, so viel wie die SPD. Sie legte in Deutschland überhaupt, über alle Wähler, die zweitgrößte Steigerung nach dem BSW hin. Von den 0,7 Prozent 2019 hat Volt das Ergebnis mehr als verdreifacht, hat aus Deutschland nun drei Sitze und auch in den Niederlanden einen gewonnen.


Generation Tiktok: Im Vergleich zu 2019 verlieren die Grünen 18 Prozentpunkte, die AfD gewinnt zehn hinzu. Im CDU-Parteivorstand war man sich uneins über das Ergebnis. Freude ja, über die konservativen Jungwähler, aber gleichzeitig Sorge wegen der AfD. Tiktok ist schuld, hieß es sofort, aber immerhin, der „Grüne Hype“ ist vorbei. Die Freude über den Unions-Zugewinn von drei Prozentpunkten war getrübt.


So haben die Jungwähler abgestimmt
6.

Die AfD jubelt: Die in Teilen rechtsextreme Partei ist zweitstärkste Kraft, vor Grünen und SPD, und das Ergebnis ist eine Steigerung um fünf Punkte gegenüber der Europawahl 2019. Eine Hochrechnung von Infratest dimap sieht die AfD in Ostdeutschland mit 27 Prozent klar als stärkste Kraft. Vor den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg im September wird man das in der AfD mit Freude zur Kenntnis nehmen. Das BSW feiert einen Erfolg, ohne der AfD den ihren wegzunehmen.


Alles nur Protest? Die Partei hat einen Kern von überzeugten Unterstützern, der auch noch relativ groß zu sein scheint. Dass es bei der AfD-Wahl nicht nur um Protest gegen die Regierung geht, zeigt auch eine Analyse der Forschungsgruppe Wahlen: Demnach sagten unter den Anhängern der AfD 28 Prozent, sie wollten mit ihrer Wahl anderen Parteien einen „Denkzettel“ verpassen. 70 Prozent ihrer Wähler gaben hingegen an, für die AfD wegen ihrer politischen Forderungen zu stimmen.


Zwei Probleme: Wer soll die Delegation auf EU-Ebene anführen? Ihren Spitzenkandidaten und die Nummer zwei auf der Liste hat die AfD im Wahlkampf zuletzt versteckt, stattdessen sprang die Nummer drei, René Aust, ein. Über ihre Leitung bestimmt die Brüsseler Delegation selbst, das werde heute „nach der Konstituierung der Delegation erfolgen“, sagte der Bundestagsabgeordnete Stefan Keuter SZ Dossier. Zweitens, welcher Fraktion möchte sie sich anempfehlen? Mit Le Pens ID, die die AfD gerade suspendiert hatte, würden schon am Montag Gespräche zwecks Wiederannäherung geführt, sagte Aust.

7.

Es hat halt jede ihre persönliche Gegnerin: Wo die Grünen erfolglos vor die AfD kommen hätten wollen, hatte Sahra Wagenknecht ein eigenes relatives Ziel. Sie sei wirklich froh, „dass wir deutlich vor Strack-Zimmermanns FDP stehen“, sagte sie. Tosender Applaus. Immer wieder buhten BSW-Anhänger auf der Wahlparty in einem ehemaligen Kino in der Karl-Marx-Allee die FDP aus, wenn sie auf der Leinwand erschien. Der Ukraine-Kurs der Liberalen ist dem BSW ein Dorn im Auge.


Die Sensation war da schon fast eingepreist. Die erste Prognose sah die Partei gerade bei sechs Prozent: „Wahnsinn“, rief Parteivorsitzende Amira Mohamed Ali. „Wir haben heute Abend Parteiengeschichte geschrieben“, sagte Christian Leye, der Generalsekretär. In der Geschichte der Bundesrepublik habe es noch keine Partei geschafft, „im Jahr ihrer Gründung bei einer bundesweiten Wahl so ein Ergebnis einzufahren“.


Stellt sich die Frage, wie es weitergeht: In Brüssel ist das BSW noch ohne Fraktion. „Es gab Gespräche“, sagte Thomas Geisel, einer der beiden Spitzenkandidaten, meinem Kollegen Tim Frehler zu den Plänen, eine Fraktion zu gründen. Dafür braucht es 23 Abgeordnete aus mindestens sieben Mitgliedstaaten. Es gebe „verhaltene Zuversicht, dass wir es schaffen können“.


Wagenknecht und Sterne? Die Abgeordneten der italienischen Fünf-Sterne-Bewegung sind im Europaparlament auch fraktionslos – und der Parteichef und frühere Premierminister Giuseppe Conte kündigte in italienischen Medien neulich eine „Überraschung“ an. „Mit denen spricht man auch“, sagte Geisel.

8.

Kommunalwahlen gab es auch: Neben der Europawahl durften die Bürgerinnen und Bürger in acht Bundesländern gestern auch bei den Kommunalwahlen ihre Stimme abgeben, in Thüringen ging es außerdem in den Stichwahlen noch um die Besetzung von Landräten und Bürgermeistern.


Kein Neonazi als Landrat: Aufmerksamkeit galt vorwiegend dem Kreis Hildburghausen in Thüringen. Dort hatte es der Rechtsextremist Tommy Frenck in die Stichwahl um das Amt des Landrats geschafft. In dieser unterlag er allerdings dem Freie-Wähler-Kandidaten Sven Gregor. Für den Rechtsextremisten Frenck stimmten dennoch mehr als 30 Prozent. Insgesamt neun Kandidaten der AfD waren Thüringen in die Stichwahl um den Posten eines Landrats eingezogen, doch keiner von ihnen gewann.


Noch liegen allerdings kaum Ergebnisse vor: Anders als bei der Europawahl können die Menschen bei der Kommunalwahl in einigen Ländern nicht nur eine Stimme vergeben, sondern dürfen Kumulieren und Panaschieren, das macht die Auswertung der Ergebnisse allerdings auch schwerer. In Brandenburg, wo im September auch Landtagswahlen stattfinden, waren kurz vor Mitternacht fast neunzig Prozent der Stimmen ausgezählt. Dort kam die AfD bei den Wahlen zu Kreistagen und Stadtverordnetenversammlungen auf mehr als 27,3 Prozent der Stimmen, die CDU lag mit 19,2 Prozent auf Platz zwei, die SPD mit 16,3 Prozent auf Platz drei.

Zitat des Tages

Unser Ziel muss sein, wenigstens in Umfragen so stark zu sein, dass es sich lohnt, einen Kanzlerkandidaten aufzustellen.

Grünen-MdB Toni Hofreiter eröffnet im ZDF-Interview am späten Abend die eigentliche Kandidatendebatte seiner Partei

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Florian Eder

Leiter SZ Dossier

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Valerie Höhne

Leitende Redakteurin