Macron wettet mit dem höchsten Einsatz
Süddeutsche Zeitung Dossier
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Dienstag, 11. Juni 2024
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Von Valerie Höhne

mit Fabian Löhe, Gabriel Rinaldi und Tim Frehler

Schnelldurchlauf:

Berlin lädt zur Wiederaufbaukonferenz für die Ukraine +++ Ist Merz nach der EU-Wahl als Kanzlerkandidat gesetzt? +++ SPD und Grüne auf der Suche nach Antworten +++ Wie aussagekräftig ist die Wählerwanderung? +++ Wie Habeck mit seiner Forderung das Lieferkettengesetz auszusetzen Freunde vergrault +++ Schlechtes Zeugnis für den zentralen IT-Dienstleister des Bundes



Guten Morgen. Abgerechnet wird zum Schluss, sagte Scholz-Sprecher Steffen Hebestreit gestern. Der Schluss sei in rund anderthalb Jahren: „Es hat sich zu keinem Zeitpunkt auch nur für eine Sekunde die Idee Bahn gebrochen, dass man in Deutschland jetzt Neuwahlen ansetzen könnte“, sagte er. Ende der Diskussion.


Wenn es nur so einfach wäre. Wenige Kilometer weiter sagte FDP-Chef Christian Lindner „drei Mal Ja!“ auf die Frage, ob er weiterhin ein Aussetzen der Schuldenbremse, eine Reform der Schuldenbremse oder ein weiteres Sondervermögen ausschließe.


Die Fantasie, woher dann die etwa 40 Milliarden, die dem Haushalt für 2025 fehlen, kommen sollen, ist seit dem Wahlabend nicht größer geworden. Die Gräben zwischen den Koalitionspartnern hingegen schon. Die FDP will am Sparkurs festhalten, die SPD die Gesellschaft mit Finanzspritzen beruhigen. Und dafür die Schuldenbremse lockern. Mehr Fantasie könnte nicht schaden.


Herzlich willkommen am Platz der Republik.

Was wichtig wird

1.

Berlin lädt zur Wiederaufbaukonferenz für die Ukraine

Heute kommt der Bundestag zu einer Sondersitzung zusammen, der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij wird sprechen. Vorher eröffnet er gemeinsam mit Bundeskanzler Olaf Scholz die Wiederaufbaukonferenz in Berlin. Mehr als 2000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, inklusive 13 Staats- und Regierungschefs, werden erwartet. Deutschland und die Ukraine wollen verschiedene Akteure vernetzen und dabei auf vier Themen setzen.


Hilfen bündeln: „Es geht darum, Fachkräfte auszubilden. Es geht darum, die kommunale Ebene zu stärken, Frauen zu fördern und vor allem auch den wirtschaftlichen Wiederaufbau anzukurbeln“, sagte SPD-Entwicklungsministerin Svenja Schulze gestern in Berlin. Ziel der Konferenz sei es, internationale Bemühungen und Akteure stärker zusammenzuführen, etwa beim „Recovery Forum“. Die Ukraine aber müsste stets im „driver’s seat“ sitzen, die Partner das tun, was sie könnten. „Das wird eine Generationenaufgabe“, sagte Schulze.


Konkrete Maßnahmen: Ein Beispiel könnte die Ausbildung von Fachkräften in Deutschland sein, die nach dem Krieg zurückgingen. Gut für Deutschland wegen des Fachkräftemangels, besser noch für die Ukraine – wenn sie denn wirklich zurückkommen. Mit dem Business Development Fund nach KfW-Vorbild sollen kleine und mittelständische Unternehmen unterstützt werden. „Seit 2022 haben wir es geschafft, rund 40.000 Kleinst- und Kleinunternehmen auf dem Markt zu halten und Arbeitsplätze zu sichern“, sagte Schulze.


Mit lieben Grüßen an den Finanzminister: Schulze, ganz gemäß der neuen SPD-Linie, regte an, über einen Sondertopf für die Hilfen nachzudenken. „Unser Engagement wird verlässlicher sein müssen“, sagte Schulze. Das sei keine normale Situation und könne nicht den jährlichen Prinzipien des Haushalts folgen. Und dann müsse Deutschland ja noch in die eigene Sicherheit investieren. „Beides kostet mehr Geld, als wir eingeplant haben“, sagte sie. Trotzdem werde die staatliche Seite allein nicht reichen. „Wir brauchen auch die Wirtschaft, wir brauchen Stiftungen, wir brauchen Gewerkschaften, wir brauchen die Zivilgesellschaft“, sagte Schulze. Das wiederum dürfte Finanzminister Lindner begrüßen.

2.

Ist Merz nach der EU-Wahl als Kanzlerkandidat gesetzt?

Wer sich in der Union dieser Tage umhört, findet nach dem 30-Prozent-Ergebnis bei den Europawahlen zunehmend kritische Stimmen. In Bayern, aber nicht nur, mehren sich dabei auch Zweifel an einem möglichen Kanzlerkandidaten Friedrich Merz. Verglichen mit den fast 40 Prozent der CSU in Bayern sei das bundesweite Unionsergebnis nicht so rosig, heißt es dann.


Diskussionen mitgedacht: „Es muss diskutiert werden, wer der richtige Kandidat ist“, sagte der CSU-Fraktionsvorsitzende im Bayerischen Landtag, Klaus Holetschek, am Montag. Markus Söder selbst, dem nach wie vor Kanzlerambitionen nachgesagt werden, sagte, der Unionserfolg bei der Europawahl bedeute „keine Vorentscheidung“ in der K-Frage. In der CDU scheine es „jetzt wieder Diskussionen zu geben“.


Wüst auch: Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst, weiterer potenzieller Kanzleranwärter, nahm die Aussage ernst, in einer ARD-Sendung deutete er an, die K-Frage sei noch offen. „Alle Ministerpräsidenten haben die Regierungserfahrung und auch die Fähigkeit zur Kanzlerkandidatur“, sagte Wüst. Er sehe aktuell „eher fünf als zehn“ mögliche Kanzlerkandidaten der Union.


Eher so lala: Am Sonntagabend hatte Merz das Wahlergebnis der Union noch als „großen Erfolg“ gepriesen, im Konrad-Adenauer-Haus herrschte trotzdem geradezu erzwungene Freude. Schnell gab es Stimmen, die das Unionsergebnis angesichts des schlechten Zustands der Ampel, den auch Merz mehrfach betonte, eher schwach fanden. Merz selbst sprach am Montag von den 30 Prozent als „Untergrenze“. Das starke Abschneiden der AfD im Osten ist für die Union besonders schwierig. Nach den Landtagswahlen dort, im Herbst, will die CDU schließlich ihren Kanzlerkandidaten küren.

3.

SPD sucht nach Antworten

Die K-Frage wurde während der Parteivorstandssitzung nicht angesprochen, auch nicht in den Kaffeepausen. So berichten es Teilnehmer. Und trotzdem ist sie da: Olaf Scholz hat sich auf Wahlplakate drucken lassen, drunter machte er es nicht. „Frieden – auf Katarina Barley und den Kanzler kommt es an“, stand darauf. Die Deutschen nahmen ihm das offenbar nicht ab, soll er also wirklich der Kandidat für 2025 werden – oder doch die Vertrauensfrage stellen? Die Partei sucht nach dem historisch schlechten Ergebnis von 13,9 Prozent nach Antworten.


Vor allem ratlos: Zu spüren sei in der Sitzung des SPD-Präsidiums vor allem eines gewesen, schreibt mein Kollege Georg Ismar, große Ratlosigkeit darüber, wie man den weiteren Absturz verhindern könnte. Der Kanzler sagte nur, das Ergebnis sei für alle Ampel-Partner schwierig. „Keiner ist gut beraten, der jetzt einfach zur Tagesordnung übergehen will“, sagte er.


Mehr Nichtwähler bei steigender Wahlbeteiligung: Fragen hat auch EU-Spitzenkandidatin Katarina Barley. Die sagte, ihr Empfinden sei in diesem Wahlkampf „ganz anders“ gewesen, auch im Vergleich zu 2019. Es sei keine passive Stimmung gewesen, sondern eine, bei der die Menschen gemerkt hätten, dass etwas ins Rutschen geraten sei. Besonders schmerzhaft sei, dass sie so viele Menschen ans Lager der Nichtwähler verloren hätten – bei steigender Wahlbeteiligung. „Das ist für mich die ganz große Frage, was da passiert ist“, sagte sie.


Auf in den Kampf: Die Wählerinnen und Wähler der SPD, die sie 2021 gewählt hätten, wollten sie „kämpfen sehen“, sagte Generalsekretär Kühnert. „Viele wollen uns deutlich stärker kämpfen sehen, als sie das offensichtlich in den letzten Monaten erlebt haben.“ Die Partei müsse Konsequenzen ziehen. Weiterhin aber wolle man die lösungsorientierte Kraft in der Koalition sein. Die SPD würde allerdings keinem Haushalt „auf Kosten des sozialen Zusammenhalts“ zustimmen. Es kommt dann wohl darauf an, was dazu zählt – auch die Steuervergünstigungen für Agrardiesel? Dann dürfte es schwierig werden.

4.

Die Grünen hadern mit ihrer Struktur

Irgendwo hier liegt die Schuld begraben, in der Parteizentrale. Gestern Nachmittag luden die Grünen zur Pressekonferenz, das Wahlergebnis von 11,9 Prozent würde aufgearbeitet und „Konsequenzen haben“, kündigte Grünen-Chefin Ricarda Lang an. „Natürlich werden wir viele Steine umdrehen“, sagte ihr Co-Vorsitzender Omid Nouripour. Man wolle eine schnelle, aber umfassende Fehleranalyse, und dabei – natürlich – vor allem auf die eigenen blicken. Strukturreformen aber seien „nicht geplant“, sagte Lang. „Wir gewinnen gemeinsam, wir verlieren gemeinsam.“


Also: Trotz großer Unzufriedenheit zum Beispiel mit der politischen Geschäftsführerin Emily Büning (in anderen Parteien hieße sie Generalsekretärin, aber das ist den Grünen zu martialisch), wird sie nicht gehen müssen. Möglicherweise bekommt sie zur Bundestagswahl einen Wahlkampfmanager an die Seite gestellt. Strukturreformen werden diskutiert, unmöglich, dass die Partei daran vorbeikommt. Dass ausgerechnet die stellvertretende Table-Chefredakteurin Helene Bubrowski zuerst darüber berichtete, die nach der Bundestagswahl auch wusste, dass Wirtschaftsminister Robert Habeck Vizekanzler würde, nährt in der Partei die Spekulationen, wer daran ein solches Interesse haben könnte – der Vizekanzler selbst etwa?


Ist das die Lösung? In der Partei glauben viele: nein. Die Grünen von oben zu führen, habe noch nie funktioniert, sagen viele, die schon lange dabei sind. „Die Grünen brauchen eine Führung, die einbindet, keine One-Man-Show“, sagte ein Abgeordneter SZ Dossier. Habeck hatte in den vergangenen Wochen zudem die Freiheit zu sagen, was er für richtig hielt, ohne Rücksicht auf Partei und Fraktion. Siehe Lieferkettengesetz (unten). Gebracht hat es nichts. „Uns fließen die Wählerinnen und Wähler in alle Richtungen ab. Wer jetzt nur Strukturdebatten führt, macht es sich zu einfach“, sagte der Abgeordnete.


Die Quadratur des Kreises: Die Stammwähler, die die Grünen in den vergangenen Jahren aufgebaut haben, halten nicht zu der Partei, wenn sie finden, die Grünen machen Fehler. Das hat dieses Wahlergebnis gezeigt. Die Frage ist also, auf wen sie sich konzentrieren sollen: Die Wählerinnen und Wähler, die ihnen programmatisch nahestehen und nun aus Frust über die Klimapolitik ihr Kreuz woanders gemacht haben? Oder die Ex-Merkel-Wähler, die Habeck so gern für sich (wieder)gewinnen würde? Die Entscheidung nur für eine der beiden Optionen sei falsch, sagte Lang auf der Pressekonferenz. „Wir stehen vor der Aufgabe beides hinzubekommen“, sagte sie, „unser Kernklientel zu erreichen und zu mobilisieren und dabei weiterhin auszugreifen.“ Freuen durfte sie sich, immerhin, gestern Abend über den Politikaward „Aufsteigerin des Jahres“.

5.

Wähler auf Wanderschaft

Am ersten Tag nach der Wahl hat die AfD-Delegation im Europaparlament ihr erstes Mitglied verloren: Spitzenkandidat Maximilian Krah flog raus. Bei ihrer konstituierenden Sitzung stimmte eine Mehrzahl der neu gewählten Abgeordneten dafür, Krah aus der Delegation auszuschließen. Damit, so die Hoffnung, könnte der Weg für eine Wiederannäherung an Marine Le Pen und ihren Rassemblement National frei sein. Die AfD sucht noch immer eine Fraktion im Europäischen Parlament. Mit Krah wäre eine Rückkehr in die ID-Fraktion schwierig geworden. Das Comeback soll jetzt René Aust organisieren, er wird die Delegation anführen.


Woher kamen die BSW-Wähler? Derweil ging am Montag die Suche nach den Gründen für den Wahlerfolg der Parteien an den Rändern des politischen Spektrums weiter. Ein beliebtes Spiel dabei ist die Frage, wer wem am meisten Stimmen abgeluchst hat. Laut Infratest Dimap wanderten vor allem von SPD und Linken Wähler zum Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). AfD-Parteichef Tino Chrupalla hatte diese Zahlen offenbar auch auf dem Schirm und sagte am Montag, man habe „kaum Stimmen an das Bündnis Sahra Wagenknecht abgegeben“. Laut Infratest Dimap kann man das so sehen: Lediglich 160.000 Menschen hat die AfD im Vergleich zur Bundestagswahl 2021 an das BSW verloren, sogar bei der FDP sind es mehr.


Das BSW also doch kein wirklicher Konkurrent für die AfD? Fachleute sehen das anders: Der Soziologe Andreas Hövermann, der am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung forscht, sagte SZ Dossier: „Die Analyse von Wählerwanderungen ist generell sehr fehleranfällig.“ Im konkreten Fall etwa, weil als Vergleich der Wert der Parteien bei der Bundestagswahl 2021 herangezogen wird. Damals stand die AfD jedoch nur bei zehn Prozent, erst danach hat sie ihre Werte in Umfragen zeitweise verdoppelt. Das berücksichtigen die Zahlen von Infratest aber nicht.


Neu und scheu? Gerade unter diesen Neulingen könnten sich aber „überdurchschnittlich“ viele vorstellen, das BSW zu wählen, sagte Hövermann, sie hätten auch kein sonderlich großes Vertrauen in die AfD. Eine kürzlich veröffentlichte Studie des WSI zeigt: Unter neuen AfD-Anhängern neigt mehr als jeder Dritte dazu, das BSW wählen zu wollen. Im Durchschnitt aller AfD-Wähler liegt der Wert der Studie zufolge bei 21,6 Prozent. „Ich würde also schon sagen, dass das BSW in der Lage war, der AfD Stimmen streitig zu machen“, sagte Hövermann.

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Tiefgang

Macron wettet mit dem höchsten Einsatz

Emmanuel Macron hat das Risiko in der Politik noch nie gescheut. Aber seine Entscheidung, das Parlament aufzulösen und eine Neuwahl herbeizuführen, ist ein unerhörtes Experiment – umso mehr, da er es aus einer Position der Schwäche heraus unternimmt. Auf dem Spiel stehen sein Ruf und das Erbe seiner Amtszeit, Frankreichs Einfluss in Europa und der Kurs der EU.


Kann sein, dass er damit erneut die Franzosen gegen die derzeit weitaus größte Partei vereint, den Rassemblement National, der die Europawahl in Frankreich mit großem Abstand gewann. Kann aber auch sein, dass er eine Regierung unter einem RN-Premierminister – Marine Le Pen selbst oder ihr Wunderknabe und Parteichef Jordan Bardella – in Kauf nimmt und die nächsten Jahre in einer cohabitation mit den Rechten regieren wird.


Die Hoffnung im Elysée, erste Stufe: Im Ich-oder-die-Vergleich würden sich ausreichend Wähler für Macrons Kurs – für ein „souveränes“ Europa, das in der Lage ist, sich und die Ukraine zu verteidigen, das seinen Industriestandort schützt und bewahrt – gewinnen lassen. Bei der Europawahl kam es nicht darauf an, so die bei allem EU-Enthusiasmus latent arrogante Haltung: Wenn ihre Interessen aber direkt in Frage stünden, würden die Franzosen sich schon darauf besinnen, wer und was gut für sie sei.


Käme es so, Macron hätte sich in wenigen Wochen vom Verlierer zum Drachenbezwinger gewandelt. Dass Marine Le Pens Partei die Europawahl mit doppelt so vielen Stimmen gewann wie Macrons Liste, muss nicht schon ein Ausgang der Parlamentswahl am 30. Juni (und 7. Juli) vorherbestimmen. Die Ankündigung kam überraschend für alle, den RN am meisten. Der Reflex, zusammenzustehen gegen die Rechten hat immerhin jahrzehntelang funktioniert, ohne allerdings die Rechten zu schwächen, im Gegenteil.


Was also, wenn? „Sollte der RN die Mehrheit gewinnen oder eine Regierungskoalition bilden, betritt Frankreich Neuland“, sagte Célia Belin, die das Pariser Büro European Council on Foreign Relations (ECFR) leitet. Die Pläne der Partei für Europa „sind nach wie vor unausgereift und zuweilen widersprüchlich“, sagte sie. „Frankreichs Stimme würde eine Zeit lang in den Hintergrund treten.“


Das sind zurückhaltende Worte für dies: Im Hôtel Matignon einziehen zu dürfen, wäre die Krönung von Le Pens Strategie der Normalisierung oder „Entteufelung“ – und die größte Verwerfung in der französischen Politik der Nachkriegsgeschichte.


Die cohabitation ist nichts Erstrebenswertes, auch nicht für den Premier, der in der konstitutionell schwächeren Rolle ist als der Präsident. Es wären zähe Jahre. Der Gedanke in Macrons Umfeld ist aber genau der, heißt es in Paris: In den drei Jahren bis zur nächsten Präsidentschaftswahl würde eine mögliche rechte Regierung sich an den Mühen des Alltagsgeschäfts so abplagen, dass eine Öffentlichkeit bis dahin sähe, was sie angestellt hat. Macrons Nachfolger, der bis dahin allerdings noch aufgebaut werden müsste, könnte die Früchte ernten. Der Präsident selbst darf 2027 nicht noch einmal antreten. Ein Plan mit sehr vielen Unbekannten.


Kurzfristig hofft das Lager um Ursula von der Leyen, dass Macron daheim so beschäftigt und europäisch so geschwächt ist, dass er die Kommissionspräsidentin für eine zweite Amtszeit durchwinkt. „Macron kann jetzt sicher keine Spielchen spielen“, sagte ein führender Christdemokrat.


Zu einem kurzen proeuropäischen Jetzt-erst-recht-Wahlkampf Macrons würde das passen: Am 28. Juni sollen, so der Zeitplan, die Staats- und Regierungschefs der EU ihre Kandidaten nominieren; zwei Tage später wählt dann Frankreich, und wieder könnte die Personalie von der Leyen Einfluss nehmen: Den Rechtsnationalen nähme sie ein Wahlkampfthema. Florian Eder

Fast übersehen

6.

„How to lose friends and alienate people“: Mit seinem „Befreiungsschlag“-Vorstoß, das deutsche Lieferkettengesetz für zwei Jahre auszusetzen, hat er nicht nur den Koalitionspartner SPD vor den Kopf gestoßen (SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich will sich schon mal nicht beteiligen). Er brüskiert auch regelrecht das grüne Milieu. Unverständnis, Enttäuschung, Fassungslosigkeit – von NGOs, Verbänden, Thinktanks, berichtet Fabian Löhe. Wortreich geklagt hatten, wenig überraschend, die Wirtschaftsverbände. Schließlich gilt die EU-Lieferkettenrichtlinie EU-weit erst Anfang 2026, hierzulande müssen aber schon jetzt Tausende Unternehmen nach dem deutschen Gesetz berichten.


Vertrauensverlust in politische Entscheidungen: Nur zur Überprüfung des deutschen Lieferkettengesetzes hat Habeck für seine nachgeordnete Behörde BAFA gerade erst im großen Stil Leute eingestellt. Tausende Unternehmen sind ja bereits verpflichtet, Missstände in ihren Lieferketten wie Umweltsünden oder Zwangsarbeit abzuschaffen. Auch sie haben entsprechende Strukturen und Prozesse aufgesetzt. So sorgt die plötzliche Habeck-Wende im FDP-Verbrenner-Stil in progressiven Teilen der Wirtschaft für Verunsicherung.


Glaube allein: „Wenn das Gesetz jetzt nicht greift, bleiben die Firmen auf den Kosten sitzen – und wir laufen Gefahr, die Wirtschaft von Morgen abzuwürgen“, sagte Katharina Reuter, Geschäftsführerin des Bundesverbands Nachhaltige Wirtschaft, zu SZ Dossier. „Wir sollten das Momentum jetzt nutzen und Transparenz und Menschenrechte nicht für fragwürdige Profit- und Lobbyinteressen opfern.“ Ob sich sein Vorhaben wirklich umsetzen lässt, da war sich allerdings auch Habeck nicht sicher. Yvonne Zwick, Vorsitzende des grünen Unternehmerverbands B.A.U.M., sagte zu SZ Dossier: „Man kann nur hoffen, dass das ein europapolitischer PR-Stunt ist, der sich in den nächsten Wochen als nicht umsetzbar erweist.“

7.

Kein gutes Zeugnis: Lange Wartezeiten, schlechter Service, komplizierte Prozesse – das Bundeskanzleramt ist unzufrieden mit dem zentralen IT-Dienstleister des Bundes, ITZBund. SZ Dossier liegt ein Papier vor, das detailreich Mängel festhält. „Die aufgeführten Erfahrungen seitens BKAmt machen grundsätzliche organisatorische und strukturelle Defizite im ITZBund deutlich“, heißt es darin. Zuerst berichtete darüber mein Kollege Matthias Punz von der Digitalwende, dem das Papier exklusiv vorlag. Hier geht es zur Anmeldung. Das ITZBund ist eine Anstalt des öffentlichen Rechts mit Sitz im Bundesfinanzministerium.


Beispiel E-Akte: Niemand hätte helfen können, wenn zum Beispiel während einer Ministerpräsidentenkonferenz am Abend technische Probleme aufgetreten wären, denn am Abend und am Wochenende habe das ITZ keinen Service angeboten. Das sei „nicht akzeptabel“. In dem Fall stünden „kritische Unterlagen nicht zum erforderlichen Zeitpunkt zur Verfügung“ oder könnten „nicht fristgerecht bearbeitet werden“. Gelöst werden konnte das Problem nur durch „teilweise Eskalation über die zuständige Abteilungsleitung“ und „mit sehr hohen Kosten“ (rund 120.000 Euro). Das ITZBund musste dafür nämlich auf externe Mitarbeiter zurückgreifen.

Zitat des Tages

Wir arbeiten mit solchen rechtsextremen und linksextremen Parteien nicht zusammen. Für Frau Wagenknecht gilt ja beides. Sie ist in einigen Themen rechtsextrem, in anderen wiederum linksextrem.

CDU-Chef Friedrich Merz über eine mögliche Zusammenarbeit mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht

Zu guter Letzt

Das Ende der Geschichte ist immer auch ein Anfang. Laut dem US-Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, der gestern bei einem Forum der Hertie School zu Gast war, allerdings kein guter (mehr). Die Demokratie sei weltweit in großen Schwierigkeiten. Da seien der Aufstieg Russlands und Chinas, aber halt auch zunehmende antidemokratische Teile der Bevölkerung in den meisten Demokratien, vorneweg in den USA.


Fünf Gründe nannte er dafür: Erstens, eine tiefe Unzufriedenheit mit dem Liberalismus, der durch linke und rechte Extreme bedroht werde. Zweitens, eine sich verändernde Gesellschaft – linke Parteien vertraten einst die Arbeiterklasse, die jetzt eher rechts wähle. Drittens, der Aufstieg des Internets, der spaltend sei. „Jeder kann seine eigene Realität haben“, sagte Fukuyama. Viertens sei die Politik auch selbst schuld – die Demokratien seien so „verfahrenstechnisch“, dass es schwierig sei, Ergebnisse zu liefern.


Dazu, fünftens, die große Langeweile. Viele Erfolge seien erreicht worden, eigentlich gehe es uns ja gut. Doch man tue lieber so, als sei das Ende nah und stürme das Kapitol.


Was tun? Nicht nur zuschauen, die Geopolitik sei zurück: „Wir können nicht zulassen, dass die Ukraine von Russland besiegt wird“, sagte Fukuyama. Putin wolle die Welt vor dem Zusammenbruch des Kommunismus wiederherstellen. China könnte eine ähnliche Bedrohung für Taiwan darstellen. Und dann müsse man halt am Ende des Tages Wahlen gewinnen, das Rad der Demokratie weiterdrehen.


Vielen Dank! An Tim Frehler, Fabian Löhe, Gabriel Rinaldi und Matthias Punz für ihre Beiträge und ihr Redigat. Und an Michelle Ostwald und Team in Sydney für Schlusskorrektur und Produktion.

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Florian Eder

Leiter SZ Dossier

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Valerie Höhne

Leitende Redakteurin