Hat der Hashtag #ReclaimTiktok funktioniert?
Süddeutsche Zeitung Dossier
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Donnerstag, 27. Juni 2024
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Von Valerie Höhne

mit Tim Frehler, Gabriel Rinaldi und Fabian Löhe

Schnelldurchlauf:

SPD plant Sonderfraktionssitzung zum Haushalt +++ Wer Terror verherrlicht, soll abgeschoben werden +++ Die Bauern fordern mehr +++ Wirtschaftsministerium und Arbeitsministerium planen Entlastungen bei Lieferkettengesetz +++ Vertrauensverlust in den deutschen Staat



Guten Morgen. Friedrich Merz' Replik auf Scholz' Regierungserklärung wäre beinahe staatstragend geraten, aber zum Glück tritt heute das neue Staatsbürgerschaftsrecht in Kraft. Der Oppositionsführer hatte also doch Gelegenheit zu opponieren. Eine „Wirklichkeitsverweigerung“ sei die Reform. Die Ampel zerstöre das soziale Gefüge und lockere das Band zu ihren Bürgern, sagte Merz.


Gering wird die Zahl der neuen Deutschen laut Schätzungen nicht, der Focus berichtete, dass Hessen eine Verdopplung der Einbürgerungsanträge erwarte, das wären etwa 63.000 pro Jahr. Berlin rechne ebenfalls mit 100 Prozent mehr Anträgen, Bayern mit einem Anstieg von rund 52 Prozent.


Strategisch scheint die Ablehnung der Reform eher unklug, schließlich dürfen Ausländer bei „besonderen Integrationsleistungen“ bereits nach drei Jahren Deutsche werden, auch doppelte Staatsbürgerschaften außerhalb der EU sind ab heute erlaubt. Diese Menschen dürfen fortan eines: wählen, auch den Bundestag.


Herzlich willkommen am Platz der Republik.

Was wichtig wird

1.

Täglich grüßt der Haushalt

Als Kanzler Olaf Scholz (SPD) am Mittwochmittag aus dem Mercedes stieg und ins Reichstagsgebäude lief, stand etwa drei Meter weiter sein Finanzminister Christian Lindner (FDP). Ein Mitarbeiter filmte ihn. „Schulden machen ist nämlich eine Selbsttäuschung, dann glaubt man, man könne dauerhaft mehr Geld ausgeben, als eigentlich zur Verfügung steht“, sagte Lindner in die Kamera.


Kanzlers Dilemma: Scholz sprach während der Regierungserklärung dann auffällig optimistisch von „kollegialen Gesprächen“ während der Haushaltsverhandlungen. Es gehe um Sicherheit („ohne Sicherheit ist alles nichts“), aber auch um Wachstum. Alles zusammen passt nicht zur Haushaltslage.


Teils passt es auch nicht zusammen. Als Scholz sagte: „Nullsummendenken führt nur zu Neid und Missgunst“, klatschte die SPD-Fraktion frenetisch. Er sagte auch, werbend für die geplante EU-Kapitalmarktunion: „Wir brauchen einen funktionsfähigen Kapitalismus in Europa, der die Wachstumsfinanzierung der Unternehmen zustande kriegt.“ Da klatschten FDP und Union. Auf der Pressetribüne blieb die Verwunderung darüber, was genau der Kanzler womit meinte.


Zuflucht im Fußball: Anfang des Jahres habe es schließlich auch noch Zweifel an Fußballdeutschland gegeben, sagte Scholz in seinem Optimismus. Vor dem Titel hat die Mannschaft noch vier Spiele zu bestehen, k.o.-Spiele, in denen die Hoffnung je 90 Minuten währt.


Sicher ist: Die SPD-Fraktion ist nicht erfreut über die Verschiebung des Haushalts auf, so ist zu hören, den 17. Juli. Die Abgeordneten müssen dann nämlich zu einer Sonderfraktionssitzung aus der Sommerpause zurück nach Berlin, gerade für Abgeordnete mit Kindern kann das logistisch herausfordernd sein.


Endlich Brüssel: Heute reist der Kanzler zum Europäischen Rat, dort wird es um das Spitzenpersonalpaket der Union gehen. Die Spitzen von Konservativen, Sozialdemokraten und Liberalen werben laut SZ-Informationen noch um die Zustimmung der rechtskonservativen italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni. Es geht auch um die Ukraine, den Krieg in Gaza und die drohende Eskalation an der israelisch-libanesischen Grenze, außerdem um die Wünsche der Staats- und Regierungschefs an die nächste EU-Kommission, die am Freitag als „Strategische Agenda“ verabschiedet werden sollen.

2.

Wer Terror verherrlicht, soll abgeschoben werden

Ein einzelner Kommentar in sozialen Medien, der Terror gutheißt oder verherrlicht, soll künftig ausreichen, um Ausländer leichter abzuschieben. Dahingehend soll nun das Aufenthaltsrecht verschärft werden. Das Bundeskabinett hat gestern den entsprechenden Regelungsvorschlag von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) beschlossen.


Klima der Gewalt: Faeser begründet ihr Vorgehen unter anderem damit, wie der Terrorangriff der Hamas auf Israel oder die islamistische Messerattacke auf einen Polizisten in Mannheim „im Netz verherrlicht“ und „gefeiert“ wurden. Diese Verrohung schüre ein Klima der Gewalt und könne Extremisten zu neuen Gewalttaten animieren. „Wer keinen deutschen Pass hat und hier terroristische Taten verherrlicht, der muss – wo immer möglich – ausgewiesen und abgeschoben werden“, teilte Faeser mit. Eine strafgerichtliche Verurteilung brauche es dafür nicht, heißt es vom Innenministerium.


Grüne dafür: Unterstützung für Faesers Vorschlag kam von Vizekanzler Robert Habeck (Grüne), der über sein Ministerium mitteilte: „Wer terroristische Taten billigt und für sie wirbt, muss gehen.“ Der Islam gehöre zu Deutschland, „der Islamismus nicht“.


Grüne dagegen: „Es hilft nicht viel, wenn man immer mehr rechtsstaatlich fragwürdige Regeln schafft, die am Ende niemand umsetzt“, sagte der Grünen-Europaabgeordnete Erik Marquardt SZ Dossier. Es fehle an Ressourcen und Personal, um solche Straftaten ernsthaft zu ahnden. „Da müssen wir ran“, sagte Marquardt, und flugs war er bei der Schuldenbremse und der FDP: „Wer einen Sparhaushalt durchsetzen will, sollte der Bevölkerung auch erklären, dass das Kürzungen bei der Gefährderermittlung, bei Überwachung und Strafverfolgung bedeutet.“

3.

Die Bauern fordern mehr

Die Bauernproteste zum Jahresbeginn sind noch immer sehr präsent im Regierungsviertel. Erst in dieser Woche stellte die Ampelkoalition ein Agrarpaket vor, um die Landwirtinnen und Landwirte zu entlasten. Die geben sich damit aber nicht zufrieden, die Stimmung ist weiter angespannt. Heute besucht Agrarminister Cem Özdemir (Grüne) den Bauerntag in Cottbus.


Ein „Päckchen“… Das Entlastungspaket der Koalition sei „lediglich ein Päckchen und Lichtjahre entfernt von dem, was notwendig ist“, sagte Bauernpräsident Joachim Rukwied zum Auftakt des Bauerntags. Das Selbstbewusstsein ist da: Mit ihrem Protest hätten die Bauern „gemeinsam das Land gerockt“, sagte Rukwied. Nach der Empörung über das Ende der Steuervergünstigungen für Agrardiesel und den landesweiten Protesten hatte die Ampel den Bauern Entlastungen versprochen. Diese Woche einigte sich die Koalition „wie versprochen“ auf einige Punkte, wie es am Dienstag hieß.


… im Wert von mehreren hundert Millionen Euro. Das Paket sieht Steuererleichterungen, weniger Bürokratie und eine stärkere Stellung der Landwirte in der Wertschöpfungskette vor. Ein Teil der Maßnahmen soll noch im Sommer besiegelt werden. Die Agraringenieurin und FDP-Abgeordnete Carina Konrad sagte SZ Dossier, das Entlastungspaket sei das größte, das es für die Landwirtschaft bislang gegeben habe. Die dadurch entstehende finanzielle Entlastung lasse sich auf einen Umfang von mehreren hundert Millionen Euro schätzen. „Wenn Herr Rukwied nun vorwirft, die geplanten Entbürokratisierungen hätten keine Auswirkungen, so muss man sich fragen, wie er darauf kommt“, sagte Konrad.


Es bleibt kompliziert. Der Bauernverband signalisierte, diesen Weg mitgehen zu können, damit ein erster kleiner Schritt erfolge. Aber Dankbarkeit ist keine Kategorie der Politik: „Wenn die Politik jetzt erwartet hat, dass wir Hurra schreien, dass wir sagen, ihr habt es toll gemacht. Sorry, das können wir nicht“, sagte Rukwied.

4.

Hätte hätte Lieferkette

Das grüne Milieu ist brüskiert, Verbände sind fassungslos, Teile der SPD fühlen sich provoziert: Habeck hat mit seiner Volte zur Lieferketten-Aussetzung für Unruhe gesorgt, vorsichtig ausgedrückt. Nun hat er zumindest seinen Kabinettskollegen Hubertus Heil ins Boot geholt. Ein gemeinsames Papier von BMWK und BMAS sieht Entlastungen beim Lieferkettengesetz vor, auch im Lichte der künftigen Berichtspflichten nach der EU-Lieferkettenrichtlinie. Das Dokument ist nicht-öffentlich und liegt SZ Dossier vor.


Mustervertragsklauseln: Konkret wollen es die Ministerien erschweren, dass (große) Unternehmen die Anforderungen an sie selbst eins zu eins an Zulieferer weitergeben, obwohl der Gesetzgeber sie selbst dafür verantwortlich macht. Das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle soll diese Praxis durch gezieltere Kontrollen verhindern helfen. Zudem soll die Ampel „die Erarbeitung von Mustervertragsklauseln und -fragebögen unterstützen, die KMU entlasten“.


Standortfragen: Das freut den Bundesverband Nachhaltige Wirtschaft. Aber: „Die Politik darf hier nicht über das Ziel hinausschießen“, sagte BNE-Geschäftsführerin Katharina Reuter SZ Dossier. „Effizientere Berichtspflichten dürfen nicht zu einem Schlupfloch werden, das die Kerninhalte aus dem Lieferkettengesetz aushebelt.“ Die wirtschaftspolitische Sprecherin der Unions-Bundestagsfraktion hingegen fordert weiter die Aussetzung des Gesetzes: „Betriebe müssen allerorts Arbeitskräfte darauf verwenden, schwer verfügbare Informationen einzuholen, die in Berichts- und Dokumentationsstapeln münden“, sagte Julia Klöckner SZ Dossier.

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Tiefgang

Hat der Hashtag #ReclaimTiktok funktioniert?

Der Aufschrei war groß: 17 Prozent der jungen Leute haben bei der Europawahl für die AfD gestimmt, so viele wie für die Union. Das hat die Forschungsgruppe Wahlen unter 16- bis 24-Jährigen ermittelt. Ist die Jugend jetzt rechts? Nein, ist sie nicht. Schlicht, weil es „die Jugend“ nicht gibt. Zehn Prozent haben die Grünen gewählt, neun die SPD, acht Volt und sieben die FDP. Außerdem gilt das Wahlverhalten junger Menschen als volatil, sie sind noch nicht auf eine Partei festgelegt, probieren gerne aus.


Das zeigte zum Beispiel die vergangene Bundestagswahl, als Erstwähler vor allem Grüne und FDP wählten. Das ist nicht einmal drei Jahre her. Und bedeutet im Umkehrschluss: Man kann die jungen Leute zurückgewinnen. Bloß wie?


Im Fokus dieses Rätsels steht immer wieder die Kurzvideoplattform Tiktok, die gerade bei Jugendlichen besonders beliebt ist. In einem kürzlich erschienenen Report der Bildungsstätte Anne Frank wird sie sogar als „Leitmedium der Gen Z“ bezeichnet. Darin heißt es jedoch auch: „Die AfD führt das deutsche Polit-Tiktok seit Jahren an.“


Die Klimaaktivisten von Fridays for Future wollten das – auch im Vorfeld der Europawahl – ändern. #ReclaimTiktok war das Motto, das soziale Netzwerk zurückerobern. Ihr Ansatz klang durchaus vielsprechend. Weil Followerzahlen auf der Plattform nicht wirklich relevant sind, setzten die FFF-Aktivisten nicht auf einzelne Accounts, sondern auf die große Masse. Die Basis sollte es richten, indem jede und jeder, das eigene Video mit #ReclaimTiktok versieht und die Plattform damit mit Content geflutet wird.


Ganz ähnlich wie auch die AfD agiert, wo Anhänger von Maximilian Krah dessen Videos herunterladen, leicht umschneiden oder verändern und sie dann selbst wieder hochladen. Dem Tiktok-Algorithmus gefällt das. Krah umging auf diesem Weg die Einschränkung seiner Reichweite, die ihm Tiktok auferlegte, weil er gegen die Regeln der Plattform verstoßen hatte.


Aber hatten die Fridays Erfolg mit ihrem Vorgehen? Magdalena Hess war maßgeblich an der Strategie beteiligt. Sie sagt, das Ergebnis der Europawahl sei „weniger schlimm als erwartet“. Dennoch seien nicht alle ihrer Botschaften durchgedrungen. Auch bei der langfristigen Änderung des Diskurses auf der Plattform sei noch Luft nach oben. Denn genau das war der Plan. Die AfD bringe die Leute dazu, nur noch über ihre Themen zu sprechen, im progressiven Lager funktioniere das aber noch nicht, sagt Hess. Wie man das ändert? „Es geht nicht um einzelne Videos“, sagt Hess. „Sondern um die Organisation von Diskurs.“


Warum fällt es dem progressiven Lager so schwer, diesen Diskurs zu verändern? Einerseits liegt es an den Themen selbst. In einer Auswertung des Europawahlkampfs auf Tiktok, die das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) gerade veröffentlicht hat, heißt es: „Mit dem traditionellen Schwerpunktthema Klimawandel, dringen die Grünen ebenso wenig durch, wie die SPD mit Wirtschaftsfragen.“ Auffällig hingegen sei, bei Grünen und SPD, „wie stark die Präsenz auf Tiktok über die Diskussion um die AfD getrieben ist“. Die beiden Parteien erhalten also dann Reichweite, wenn sie sich mit der AfD beschäftigen – und verschaffen ihr so wiederum ebenfalls Reichweite, ohne dass die AfD dafür etwas tun muss.


Es fehle auch einfach an personeller Stärke, um der AfD in sozialen Medien etwas entgegenzusetzen, sagt Magdalena Hess. FFF habe nicht mehr so viele Leute wie früher. „Die Parteien hätten das aber“, sagt sie. „Tausend engagierte Accounts, die bloggen und teilen“, damit könnte man schon viel erreichen, sagt die Aktivistin.


Doch auch die Parteien tun sich schwer. Eine Auswertung von SZ Dossier zeigt, dass zum Beispiel die Grünen während des Wahlkampfes auf Tiktok sehr aktiv waren, die AfD bekam aber deutlich mehr Views. Emily Büning, Bundesgeschäftsführerin der Grünen, sagte SZ Dossier vergangene Woche: „Wir haben zu spät auf Tiktok gesetzt und die Plattform zu lange den Rechten überlassen.“


Eine Person, die sich bei den Grünen um Social Media kümmert, findet hingegen, die Partei habe nicht nur zu spät auf Tiktok gesetzt, sondern auch viel zu wenig dafür investiert – vor allem im Personalbereich. „Nach langem Hin und Her wurde zwar beschlossen, auf Tiktok aktiv zu werden. Zusätzliche Stellen für Videoeditoren wurden aber nicht in ausreichendem Maße geschaffen. Dabei bräuchte es noch deutlich mehr Personen, die sich professionell um Social Media kümmern.


Es gebe auch noch ein weiteres Problem: Unter Grünen bestünden immer noch Vorbehalte, was das Aufnehmen und Weiterverbreiten von Videos angeht. Abgeordnete sowohl im Bund als auch in den Ländern seien zögerlich, Beiträge zu teilen, die nicht zu ihrem Themengebiet passten. „Viele posten noch immer lieber Sharepics aus dem Kreisverband, anstatt sich per Kurzvideo zu aktuellen Themen zu äußern oder Clips von Habeck, Baerbock oder anderen Kolleginnen und Kollegen zu teilen.“


Viel Zeit, um das zu ändern, bleibt nicht. Schon im September stehen die Landtagswahlen in drei ostdeutschen Ländern an, 2025 die Bundestagswahl. Tim Frehler

Fast übersehen

5.

Bremsen die Grünen den Kampf gegen Geldwäsche aus? Damit das Bundesamt zur Bekämpfung von Finanzkriminalität (BBF) bald seine Arbeit aufnehmen kann, muss das Finanzkriminalitätsbekämpfungsgesetz (FKBG) spätestens nächste Woche verabschiedet werden. Gestern ist nun Bewegung in die Diskussion gekommen, zuvor hatte es zwischen Grünen und FDP gehakt.


Der Hintergrund: Die FDP wirft dem Koalitionspartner vor, mit der Blockade die Kindergrundsicherung retten zu wollen. Die Grünen hingegen sahen Änderungsbedarf beim Gesetz gegen die Verschleierung von Vermögen – einem verwandten Dossier, das gemeinsam verhandelt wird. Gestern wurde das FKBG vom Finanzausschuss beschlossen und könnte damit ins Plenum. FDP-Politiker Markus Herbrand sagte, der abschließenden Debatte stehe nun nichts mehr im Weg. Doch es ist noch offen, ob die dritte Lesung in der nächsten Sitzungswoche tatsächlich stattfinden kann.


Appell an Länder: Der Startschuss für die operative Arbeit der neuen Behörde ist für den Sommer 2025 vorgesehen. „Wichtig ist, dass auch die Bundesländer den von Bundesfinanzminister Lindner gegen viele Widerstände durchgesetzten Paradigmenwechsel unterstützen“, sagte Herbrand.

6.

Vertrauensverlust: Nur noch ein Viertel der Deutschen glaubt, der Staat sei in der Lage, seine Aufgaben zu erfüllen. 70 Prozent der Befragten finden hingegen, der Staat sei überfordert. Das ergab die diesjährige Bürgerbefragung des Deutschen Beamtenbunds in Zusammenarbeit mit forsa, die gestern vorgestellt wurde. Drei Erkenntnisse aus der Umfrage.


Neuer Tiefpunkt: 2019 sagten noch 34 Prozent der Befragten, der Staat sei in der Lage, seine Aufgaben zu erfüllen. 2020, zu Beginn der Corona-Pandemie, stieg der Wert auf 56 Prozent. Seitdem hat er sich jedoch mehr als halbiert, und liegt nun bei 25 Prozent. Auffällig: Unter den Anhängern der AfD sagen neun von zehn, der Staat sei überfordert, bei der FDP sind es mit 85 Prozent deutlich mehr als bei SPD (54 Prozent) und Grünen (50 Prozent). Auf die Frage, bei welcher Aufgabe der Staat besonders strauchelt, nannten die meisten Befragten (30 Prozent) die Asyl- und Flüchtlingspolitik.


Redet noch jemand übers Klima? Deutlich weniger Priorität als noch im Vorjahr haben bei den Befragten Investitionen für den Klimaschutz wie der Ausbau der erneuerbaren Energien. 37 Prozent halten dieses Thema für sehr wichtig, neun Prozentpunkte weniger als 2023. Am wichtigsten ist den Bürgern weiterhin, dass der Staat sich um soziale Gerechtigkeit kümmert, allerdings sank der Wert um vier Prozentpunkte im Vergleich zum Vorjahr.


Was nicht zusammenwächst: Befragte in Ost- und Westdeutschland unterscheiden sich zum Teil erheblich darin, was sie politisch wichtig finden: Die Bundeswehr fit machen, das Klima schützen und die Ukraine auch mit schweren Waffen zu unterstützen, das finden im Osten deutlich weniger Menschen wichtig als im Westen. Beim Thema Klima ist der Unterschied besonders groß: Im Westen halten das 41 Prozent für sehr wichtig, im Osten 17. Dort glauben außerdem 77 Prozent, der Staat sei überfordert, im Westen sind es 69 Prozent.

7.

Änderungen bei Petitionen: Künftig reichen 30.000 Mitzeichnungen, damit der Petitionsausschuss des Bundestages eine Petition öffentlich berät. Die Frist zur Mitzeichnung von Petitionen wird von vier auf sechs Wochen verlängert. Das haben die Regierungsfraktionen beschlossen, die Reform tritt zum 1. Juli in Kraft. 2023 hat der Ausschuss sechsmal öffentlich getagt und dabei zehn Eingaben beraten, die mehr als 50.000 Mitzeichnungen innerhalb von vier Wochen verbuchen konnten.


Rückblick auf 2023: Täglich 46 Petitionen sind im vergangenen Jahr durchschnittlich beim Bundestag eingegangen. Wie aus dem Tätigkeitsbericht des Petitionsausschusses hervorgeht, der heute um 9 Uhr im Bundestag vorgestellt wird, wurden 11.410 Petitionen eingereicht. Im Vergleich zum Vorjahr sind das fast 2.000 Petitionen weniger. Insgesamt seien 1,59 Millionen schriftliche oder elektronische Unterschriften verzeichnet worden. Das waren rund 650.000 mehr als im Vorjahr. Besonders beliebt waren die Tätigkeitsfelder des Arbeits- und Innenministeriums.

Zitat des Tages

Das letzte Wahlergebnis ist daher auch eine Abrechnung mit der Ampelregierung, die leider mehr mit sich selbst beschäftigt ist, als die strukturellen Herausforderungen engagiert anzugehen.

Baden-Württembergs Finanzminister Danyal Bayaz (Grüne) im Interview mit der Zeit über die Schwierigkeiten der Regierungskoalition

Zu guter Letzt

Es ist meist etwas Besonderes, wenn Politikerinnen und Politiker ihre Memoiren veröffentlichen, schreibt Gabriel Rinaldi. Wenn dies über 45 Jahre nach ihrem Tod geschieht, ist es umso bemerkenswerter – erst recht, wenn sich der Text so aktuell liest wie die 120 Schreibmaschinenseiten über die Kanzlerzeit von Ludwig Erhard („Erfahrungen für die Zukunft: Meine Kanzlerzeit“, Econ Verlag).


Die bislang unbekannten Erinnerungen des CDU-Altkanzlers, die der Bonner Historiker Ulrich Schlie zufällig in einem Tresor der Ludwig-Erhard-Stiftung fand und die heute erscheinen, bieten einen umfassenden Einblick in seine Regierungszeit zwischen 1963 und 1966.


Und so wie es scheint, sind sich Bonn und Berlin doch ähnlicher, als so manchem lieb sein dürfte. Die FDP – ein Bremser, der jeden Koalitionspartner zur Verzweiflung bringt. Die Bundesneuverschuldung, der Lobbyismus, die Groko, das alles wird kritisiert. Erhard, genauer gesagt Ghostwriter Hans „Johnny“ Klein, der später Pressesprecher von Helmut Kohl wurde, schreibt auch, dass die Hauptlast für die Sicherheit Europas nicht den USA überlassen werden dürfen.


Jede Ampelpartei, auch die FDP, dürfte mindestens einen Punkt unterschreiben. Und noch eine historische Parallele drängt sich geradezu auf. „War ich zu Beginn meiner Kanzlerschaft sogar ein wenig überrascht von der Autoritätsfülle, vom Einfluss, vom Informationssog, die dieses höchste Regierungsamt kennzeichnen, so war ich zum Schluss mindestens ebenso erstaunt darüber, wie rasch sich dies alles trotz glanzvoll gewonnener Bundestagswahlen abbaute“, heißt es im Buch.


Vielen Dank! An Florian Eder fürs Redigat, an Tim Frehler, Fabian Löhe und Gabriel Rinaldi für ihre Beiträge und an Corinna Melville und Team in Australien für Schlusskorrektur und Produktion.

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Florian Eder

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