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Nutzungsrechte erwerbenDie Eurobonds-Debatte ist zurück
Montag, 26. August 2024Von Florian Eder
Guten Morgen. Aus einiger Höhe auf die Welt zu schauen, verringert die Störungen im Bild. Manches wird klarer, wenn auch nicht schöner.
Chinas politische Unterstützung für Russlands Krieg gegen die Ukraine bedeutet das Ende einer jahrzehntelang erfolgreichen westlichen Politik, die beiden voneinander auf Abstand zu halten. „Was da passiert, hat eine wirklich globale Bedeutung“, sagte José Manuel Barroso, ein Elder Statesman als früherer Präsident der EU-Kommission. „Jetzt sind sie zusammen, diese Mächte, die in der Tat gegen unsere Lebensweise sind.“
Gleichzeitig sei Europa wirtschaftlich hinterher. „Wir haben nicht die gleiche Dynamik wie die USA. Wir sind in vielen Bereichen im Rückstand, auch in Wissenschaft und Technologie“, sagte er. „Ich denke, wir haben die Mittel und die Fähigkeit, diesen Rückstand zu überwinden. Aber wir befinden uns in einer sehr bedeutenden Phase des Übergangs. Die alte Ordnung existiert nicht mehr.“
Wir melden uns heute aus den Tiroler Alpen, vom Europäischen Forum Alpbach, wo ich gestern mit Barroso gesprochen habe. Was aus seiner Analyse folgt? Unten gleich mehr dazu.
Willkommen am Platz der Republik.
Was wichtig wird
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wird heute nach Solingen reisen, an den Ort des Anschlags, an dem ein Attentäter am Freitagabend bei der 650-Jahr-Feier der Stadt mit einem Messer auf Festgäste eingestochen hat. Drei Menschen starben, acht weitere wurden teilweise schwer verletzt.
Zur Lageeinschätzung: Wieder ein Messerangriff. Wieder Tote in deutschen Innenstädten, der mutmaßliche Täter wieder einer, der in Deutschland Schutz suchte und bekam. Dass in einer Woche Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen sind, macht die Debatte darüber, was nun zu tun sei, umso dringlicher für die Mitte. Die Grenze zur Ankündigungspolitik ist nicht fern.
Stand der Dinge: Ein Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof hat gestern Haftbefehl gegen einen 26 Jahre alten Syrer erlassen, der sich zuvor der Polizei gestellt und die Tat gestanden hatte. Er lebte mit subsidiärem Schutz in Deutschland, 2023 hätte er nach Bulgarien abgeschoben werden sollen, weil er dort in die EU eingereist war. Weil die Polizei ihn aber nicht antraf, verstrich eine Frist und die Bundesrepublik wurde für das Asylverfahren zuständig, berichten Daniel Brössler und Constanze von Bullion. Am Samstag hat die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) das Attentat für sich reklamiert, die Tat sei „als Rache für Muslime in Palästina und überall“ verübt worden.
Schärferes Waffenrecht: Innenministerin Nancy Faeser (SPD) forderte mehr Messerverbote, Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) brachte mehr Waffenverbote ins Spiel, man lebe schließlich nicht mehr im Mittelalter. Zuletzt war es die FDP, die sich gegen eine Verschärfung des Waffenrechts wehrte. Justizminister Marco Buschmann ließ aber erkennen, dass Bewegung in die Debatte kommt.
„Es reicht!“ Das schrieb CDU-Chef Friedrich Merz gestern den Lesern seines Newsletters. Nicht die Messer seien das Problem, sondern die Personen, „die damit herumlaufen“, schrieb er: „In der Mehrzahl der Fälle sind dies Flüchtlinge, in der Mehrzahl der Taten stehen islamistische Motive dahinter.“ Merz forderte, aus Syrien und Afghanistan keine Geflüchteten mehr aufzunehmen – jetzt sei der Kanzler gefragt, gemeinsam mit der Union schnelle und konsequente Entscheidungen zu treffen. SPD-Chefin Saskia Esken forderte eine „konsequente Abschiebung von Straftätern und islamistischen Gefährdern auch nach Syrien und Afghanistan“.
Nun hat es der erste Mann im Staate versucht, die Koalition zur Ordnung zu rufen: „Anpacken statt spekulieren und zurück an die Werkbank“, sagte Steinmeier im ZDF-Sommerinterview und forderte die Regierungsparteien auf, das Reden über die nächste Regierung unverzüglich einzustellen und das „öffentliche Gezerre“ zu beenden.
Das nächste Machtwort: Es ist ein Aufruf zur Ernsthaftigkeit eine Woche, bevor in den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen allen drei Ampelparteien Unheil bis hin zum parlamentarischen Exitus droht. Damit setzt Steinmeier seine Autorität für eine Regierung ein, deren Mitglieder sich selbst schon öffentlich auf Partnersuche für die Zeit danach machen – er setzt sie sogar aufs Spiel dafür. Was, wenn sein Machtwort so viel wert ist wie das des Bundeskanzlers neulich?
Auf der Auslaufstrecke? Grünen-Chef Omid Nouripour ist von Steinmeier vor allem gemeint. Sein Begriff der „Übergangsregierung“ sei der „falsche“ und gehe „völlig an der Erwartung der Menschen vorbei“. Was die Menschen erwarten, wusste Steinmeier auch: „Wenn die Lage objektiv schlecht ist, dann erwarten doch die Menschen, dass alles getan wird in der zur Verfügung stehenden Zeit, um sie zu verbessern.“ Wenn man aber mit dem Begriff der Übergangsregierung „signalisiert, wir sind eigentlich schon in der Auslaufstrecke, dann verfehlt man genau diese Erwartungen“.
Auch heute listet die Bundesdatenschau für uns und Sie auf, welche Bundestagsabgeordneten auf X im Vergleich zu den Vorwochen jeweils durchschnittlich mehr oder weniger Aufmerksamkeit in Form von Likes und Kommentaren erhalten haben.
Der Winter naht: Sascha Müller (Grüne) bekam überdurchschnittlich viele Likes für einen Tweet, in dem er den Einsatz Robert Habecks für die Energieunabhängigkeit Bayerns gegenüber Russland lobte. Der ehemalige Ostbeauftragte Marco Wanderwitz (CDU) teilte einen Artikel, in dem es darum ging, dass die CDU im Thüringer Landtag alles zur Abstimmung stellen lassen werde, was sie vor der Wahl versprochen habe, unabhängig davon, ob eine Mehrheit nur mit AfD-Stimmen zu erreichen sei, mit dem Zusatz: „Winter is coming.“
Tiefgang
José Manuel Barroso hat eine alte Debatte mit neuer Dringlichkeit versehen: Gemeinsame Schuldenaufnahme in der EU könnte die Finanzierung der Ukrainehilfen und mehr gemeinsame Anstrengungen in der Sicherheitspolitik finanzieren helfen. „Ich denke, das ist unvermeidlich“, sagte er im SZ-Dossier-Interview auf die Frage, ob es an der Zeit dafür sei.
Der EU-Haushalt, finanziert durch Beiträge der EU-Länder, gelange an Grenzen: „Außergewöhnliche Umstände erfordern außergewöhnliche Antworten“, sagte Barroso, der von 2004 bis 2014 Präsident der EU-Kommission war. „Eine Art Freiheitsanleihen wäre sinnvoll“, sagte er. „Wir können sie Freiheits- oder Friedensanleihen nennen.“
Die Forderung, die EU anstelle direkter Transfers aus nationalen Haushalten mit eigenen Einnahmen aus dem Binnenmarkt auszustatten und auch eine eigene Kreditaufnahme zu erlauben, kehrte zuletzt mit einiger Wucht zurück. Die andauernde Unterstützung der Ukraine bis hin zum Plan, sie in die EU aufzunehmen, macht ein recht radikales Nachdenken über EU-Ausgaben notwendig, und damit – das Geschäft heißt Politik – auch über Einnahmen.
Die FDP-Europaabgeordnete Svenja Hahn widersprach umgehend: „Meiner Meinung nach müssen wir zuallererst eine Diskussion über Prioritäten führen“, sagte sie und diagnostizierte bei den Mitgliedstaaten einen Mangel an Ehrgeiz für diese Debatte und substanzielle Reformen. „Mit der Verschuldung zu beginnen, ist der falsche Ansatzpunkt für diese Diskussion.“
Wir drei sprachen auf einer Bühne auf dem Europäischen Forum Alpbach vor der Bergkulisse über die Weltlage und darüber, wie die EU und ihre Mitglieder jenseits von Sonntagsreden reagieren können. Auch mit dem Abstand zum Amt geht bei Barroso eine Entschiedenheit in der Einschätzung einher, zu der in Europas Hauptstädten längst nicht alle gekommen sind: „Ich halte den Einmarsch Russlands in die Ukraine heute für die schwierigste Herausforderung für uns in Europa“, sagte er.
„Die Welt ist nach dem Februar 2022 nicht mehr dieselbe, und es wird keine Rückkehr zum Status quo ante geben: Die Welt wird nicht mehr dieselbe sein.“ In Barrosos Analyse folgt daraus auch die Notwendigkeit einer neuen Selbstvergewisserung der EU, einer neuen Härte in der Außenwirtschaftspolitik und einer gemeinsamen Sicherheitspolitik.
Erstens also: „Aus meiner Sicht ist die Entkopplung unvermeidlich“, sagte er über China, es könne zu einer „vollständigen Entkopplung“ in der Welt kommen. „Ich halte es für eine Tragödie, wenn wir uns aus wirtschaftlicher Sicht völlig auf China einlassen.“ Abhängigkeit sei zu vermeiden: „Wenn es eine Invasion Taiwans gibt oder wenn China Russland voll unterstützt, wenn die USA Sanktionen gegen China beschließen (…), dann glaube ich nicht, dass die Europäer sagen werden, wir bleiben bei China, nicht bei den USA.“
Zweitens dürfe sich Europa nicht auf andere verlassen bei den Zukunftstechnologien: Quantencomputer, künstliche Intelligenz, „all das, was jetzt in der Biotechnologie und der Genetik passiert“, sagte Barroso unter dem Hinweis, dass die Technologien zumindest auch für militärische Zwecke da seien.
„Wenn nicht, werden wir auf der einen Seite von den Amerikanern gefressen werden“, sagte er. „Sie sind natürlich unsere Verbündeten in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht, aber in wirtschaftlicher Hinsicht liegen wir hinter den Vereinigten Staaten zurück, wir verlieren wirklich jeden Tag Positionen in diesen Technologien. Oder wir werden von den Chinesen überholt.“
Auch die Biden-Regierung war „nicht an vorderster Front dabei, wenn es um Handel oder Handelsabkommen mit Europa geht“, sagte Hahn. „Hier gibt es also einige Konflikte.“ Europa müsse seine Interessen „viel härter verteidigen“, sagte Barroso. „Wir dürfen nicht naiv sein, denn wir leben heute in einer Welt, in der die wirtschaftliche Effizienz nicht so wichtig ist wie die wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit.“
Und so gewinnt auch eine engere Zusammenarbeit unter EU-Staaten in der Sicherheitspolitik neue Freunde; von der Leyen hat dies schon einmal vorgedacht und mit dem Instrument der „ständigen strukturierten Zusammenarbeit“ dem Machbaren angepasst. Nun läuft ein Versuch weiterer Vertiefung.
Barroso kann sich auch noch mehr vorstellen als die schon gemachten Binnenmarkt-basierten Vorschläge. In offener Diskussion in vertraulicher Runde saßen wir in Alpbach mit Expertinnen und Experten auch eineinhalb Tage zusammen, um die Grenzen des Möglichen auszuloten.
„Ich bin der festen Überzeugung, dass der beste Weg, einen Krieg, einen allgemeineren Krieg in Europa zu vermeiden, darin besteht, uns darauf vorzubereiten, sodass wir Russland klar signalisieren, dass es ihn nicht gewinnen kann“, sagte Barroso im Interview gestern. „Wenn nicht jetzt, wann dann?“
Fast übersehen
Wie man Russland zum Austicken bringt: Der russisch-französische Gründer und CEO des Messengerdienstes Telegram, Pawel Durow, wurde am Samstagabend an einem Flughafen in der Nähe von Paris festgenommen. Das office mineurs, zuständig für die Bekämpfung von Gewalt gegen Minderjährige, hatte im Rahmen einer Voruntersuchung einen Haftbefehl gegen Durow ausgestellt.
Von Cybermobbing bis Terrorverherrlichung: Die französische Justiz wirft Durow vor, nichts zu unternehmen, um gegen die kriminelle Nutzung seines Messengers vorzugehen – insbesondere keine Moderation und keine Zusammenarbeit mit Ermittlern beim Verdacht auf Straftaten, die von Betrug, Drogenhandel, Cybermobbing, organisierter Kriminalität bis hin zu Verherrlichung des Terrorismus reichen
Quod erat demonstrandum: Moskau betonte, dass Durows Festnahme ein Versuch sei, eine Internetplattform zu schließen, „auf der man die Wahrheit über die Ereignisse in der Welt erfahren kann“.
Stützen der ostdeutschen Wirtschaft: Laut einer neuen Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) stützen gerade Ausländer die Wirtschaft in Ostdeutschland. Im vergangenen Jahr arbeiteten in den fünf ostdeutschen Bundesländern rund 403.000 Menschen, die keinen deutschen Pass haben. Rund 173.000 mehr als noch fünf Jahre zuvor. „Sie allein erwirtschafteten 24,6 Milliarden Euro – das entspricht 5,8 Prozent der ostdeutschen Bruttowertschöpfung“, hieß es.
Der Hintergrund: Seit 2018 schrumpfte die Zahl der deutschen Beschäftigten um 116.000. Ohne neu hinzugekommene Ausländer wäre die Wirtschaft spürbar zurückgegangen – stattdessen ist sie gewachsen. In den vergangenen fünf Jahren seien vor allem Menschen aus Polen und Tschechien neu in den Osten gekommen, aber auch aus Rumänien und der Ukraine.
Unter eins
US-Ökonom und Nobelpreisträger Joseph Stiglitz hat in Alpbach die Bedeutung von Ungleichheit für die Zunahme von Extremismus betont
Zu guter Letzt
Nicht nur der Bundeskanzler hat ein Autoritätsproblem, auch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat ein gewaltiges: Sie bat um je zwei Personalvorschläge aus jeder Hauptstadt, Mann und Frau, auf dass sie ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis in ihrem Kollegium erreichen könne. Allein, Regierungschefs von Irland über Luxemburg und Österreich bis Griechenland ignorieren reihenweise ihren Wunsch.
Das ist nicht unverständlich – es erhöht den Reiz des schönen Amtes als EU-Kommissar bei Kandidaten nicht gerade, bei der Auswahl vom Wohlwollen von der Leyens und ihres Teams abhängig zu sein, nachdem man sich daheim auf Platz eins gekämpft hat. Für Regierungschefs ergibt sich zudem noch die Gelegenheit, der gerade gekürten Präsidentin ihren Platz zu zeigen.
Sie verweigern sich also mit Verweis auf ein Vorrecht der Mitgliedsstaaten, ihren Kandidaten zu benennen. Dass der EU-Vertrag allerdings „Einvernehmen“ zwischen Kommissionspräsidentin und dem Rat in dieser Frage vorsieht, macht die Düpierung umso größer. Es läuft in der Folge, Stand heute, darauf hinaus, dass Männer zwei Drittel der nächsten Kommission ausmachen.
Was könnte von der Leyen tun? „Ich habe Erpressung angewandt“, bekannte Barroso im Gespräch. Gordon Brown, bei der Kommissionsbildung 2009 britischer Premier, schickte ihm eine Liste mit drei Männern. „Okay, Gordon, du kannst einen Mann schicken, ich werde ihn mit der Leitung des Amts für Veröffentlichungen beauftragen“, erinnerte sich Barroso gesagt zu haben. Eine Frau hingegen werde bessere Aufgaben bekommen. Brown schickte Catherine Ashton, die EU-Außenbeauftragte wurde.
Ist Politik wirklich so schlicht? „Ich bin nicht mehr in der Politik“, sagte Barroso. „Ich kann jetzt viel aufrichtiger sein.“
Danke! Nach Alpbach und Australien.