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Scholz und Merz: Kanzlerduell um Migrationsfrage

Mittwoch, 28. August 2024
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Von Gabriel Rinaldi

mit Tim Frehler und Selina Bettendorf

Guten Morgen. Am Montag in Solingen, sogar dann, als es um seinen Zorn auf die Islamisten ging, hielt der Bundeskanzler eine Rede der leisen Töne. Das ist nicht bildlich gesprochen. Olaf Scholz (SPD) hatte in erster Linie die Mikrofone im Blick, die vor ihm aufgerichtet waren, nicht die Solingerinnen und Solinger hinter den Absperrungen, die den Gedanken des Kanzlers akustisch kaum folgen konnten.


Diese Lücke gefüllt hat seither vor allem CDU-Chef Friedrich Merz. Höhepunkt: sein Auftritt in der Bundespressekonferenz gestern. Die politischen Vorschläge seien nicht taktisch gemeint, merkte der Oppositionsführer an, doch die Inszenierung als Alternativbesetzung fürs Kanzleramt war kaum zu übersehen: „Dem Bundeskanzler entgleitet mittlerweile das eigene Land“, sagte Merz.


Scholz nahm die Herausforderung an und ging gestern Abend in die Offensive. Im ZDF-Interview beschrieb er, welche politischen Schlüsse er aus dem Anschlag in Solingen zieht. Dazu gleich mehr.


Willkommen am Platz der Republik.

Was wichtig wird

1.

„Zunächst ist es eine gute Sache, wenn bei einer so wichtigen Frage die Opposition bereit ist, mit der Regierung zusammenzuarbeiten“, sagte Olaf Scholz gestern Abend im zehnminütigen Interview im Heute Journal. Am Morgen war Friedrich Merz im Kanzleramt vorgefahren, mit reichlich Vorschlägen im Gepäck.


Warum das wichtig ist: Der Kanzler hat beschlossen, das politische Kapital, das aus dem Anschlag in Solingen zu ziehen ist, nicht kampflos anderen zu überlassen. Dem Oppositionsführer, der ihm nächstes Jahr das Kanzleramt streitig machen will, erst recht nicht.


Landezone: Die Grenzkontrollen will auch Scholz „so lange wie möglich fortführen“. Ebenfalls einig sind sie sich bei Abschiebungen, beide möchten Rückführungen nach Afghanistan durchführen und auch nach Syrien. Scholz geht es da allerdings vor allem um „schwere Straftäter“.


Dann wird es kompliziert. Nah beieinander sind Kanzler und Oppositionsführer nicht. Merz verlangte, Migranten an den deutschen Außengrenzen zurückzuweisen, das sei seiner Auffassung nach rechtlich möglich. Andernfalls müsse Deutschland eine Notlage erklären, die den Schutz der Binnengrenzen ermögliche. „Das Individualrecht auf Asyl bleibt“, konterte Scholz. Es werde keine pauschale Ablehnung an Deutschlands Grenzen geben, dagegen spreche auch das Recht.


Lindner, Adabei: Merz rechnete vor, dass SPD und Union im Bundestag zusammen eine Mehrheit hätten, um die von ihm geforderten Gesetzesänderungen durchzusetzen. Finanzminister Christian Lindner (FDP) meldete ebenfalls Interesse an: „Die FDP steht zu überparteilichen Anstrengungen bereit, neuen Realismus in der Migration von Bund und Ländern konsequent durchzusetzen“, sagte er Bild. „Die Vorschläge von Herrn Merz zur Migration decken sich stark mit denen der FDP.“


Wie es jetzt weitergeht: Merz sagte, er habe dem Bundeskanzler vorgeschlagen, eine Person zu benennen, die zusammen mit Thorsten Frei (CDU) bis zur nächsten Sitzungswoche des Bundestags klären solle, worauf man sich verständigen könne. So soll eine Liste mit schnell änderbaren Gesetzen entstehen. Scholz habe nicht zugesagt, aber eine rasche Antwort in Aussicht gestellt.

2.

Längere Lebenserwartung per Gesetz? Das ist mal was Neues. Heute will Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sein „Gesundes-Herz-Gesetz“ vorstellen.


Worum es geht: Deutschland gibt für Gesundheit zwar so viel Geld aus wie kein anderes EU-Land, trotzdem liegt die Lebenserwartung nur knapp über dem EU-Durchschnitt, konstatiert der Referentenentwurf: „Dies wird insbesondere auf die kardiovaskuläre Sterblichkeit zurückgeführt.“ Nicht nur gelten Herz-Kreislauf-Erkrankungen als häufigste Todesursache, sie verursachen auch „die höchsten Kosten für das Gesundheitssystem in Deutschland“. Lauterbachs Ministerium will Früherkennung und Versorgung verbessern.


Worauf wir achten: Wie Werner Bartens neulich in der SZ schrieb, sieht der Entwurf vor, Statine, also Cholesterinsenker, großzügiger zu verordnen, auch an Kinder und Jugendliche. Ärzte und Wissenschaftler wandten ein: Bewegung und ordentliches Essen wären womöglich nachhaltiger, günstiger fürs Solidarsystem, besser für die Menschen. Im Juli kündigte Lauterbach an, das Gesetz werde ein paar Kritikpunkte aufgreifen. Heute um 11:30 Uhr wird er dazu gemeinsam mit Stephan Baldus, Klinikdirektor am Herzzentrum der Uniklinik Köln, in der Bundespressekonferenz auftreten. Zuvor wird sich das Bundeskabinett mit dem Gesetz befassen.


Apothekerpartei: Ein anderes Vorhaben aus Lauterbachs Haus verzögert sich weiter. Bei der Apothekenreform sei man „noch in regierungsinternen Absprachen“, teilte eine Ministeriumssprecherin gestern mit. Die Reform wurde mehrfach vertagt, sollte eigentlich schon am 17. Juli das Kabinett passieren. Die FDP ist skeptisch und kritisiert vor allem die Einführung sogenannter Filialapotheken, in denen es möglich sein soll, das Geschäft ohne einen approbierten Apotheker zu betreiben.

3.

Pawel Durow, der russisch-französische Gründer des Messengerdienstes Telegram, bleibt nach seiner Festnahme noch für mindestens 48 Stunden in Haft, wie die Pariser Staatsanwaltschaft gestern mitteilte. Der Fall ruft interessante Reaktionen hervor, denn ausgerechnet Moskau macht sich plötzlich große Sorgen um die Meinungsfreiheit. BSW und AfD, die sich mit der Nutzung des Messengers bestens auskennen, schließen sich an.


Der berühmte Dritte war’s: Es sei „absurd“, einen schlichten Dienstleister für etwaigen Missbrauch „durch Dritte“ verantwortlich zu machen, teilte Telegram mit. Der Messengerdienst betonte, alle geltenden Regeln einzuhalten. Sevim Dağdelen (BSW) sprach auf X von einem massiven „Angriff auf die Meinungs- & Pressefreiheit“. Ähnliche Töne kamen aus dem Kreml.


Auch in Deutschland läuft ein Verfahren: Allerdings gegen das Unternehmen und nicht Durow als Person. Dabei geht es, wie in Frankreich, um den Umgang mit potenziell strafbaren Inhalten auf der Plattform. Wie der Spiegel berichtet, kommt das Verfahren nur schleppend voran. Brüssel will derweil nichts mit der Sache zu tun gehabt haben: Die Europäische Kommission teilte mit, das Ganze sei Angelegenheit Frankreichs.


Strategische Ambiguität: Durow und sein Vertreter haben laut Moskau keinen Antrag auf Hilfe bei russischen Vertretern gestellt. Generell gilt das Verhältnis des Unternehmers zum Kreml als schwierig. Im Jahr 2014 verließ Durow Russland, nachdem er auf Druck der Behörden seine Plattform „Vkontakte“ – ein russisches Pendant zu Facebook – verkaufen musste. Wenn es darum geht, den Westen anzugreifen, scheint Moskau aber nicht sehr nachtragend zu sein.

Tiefgang

„Woher nehmen wir den Gedanken, dass wir uns selbst versorgen können oder die Vorräte für unseren eigenen Bedarf haben, wenn wir sie brauchen?“, sagte Kusti Salm, ständiger Sekretär im estnischen Verteidigungsministerium, SZ Dossier. Die europäischen Verbündeten seien schließlich nicht in der Lage gewesen, die Ukraine mit ausreichend Panzern, Munition und Raketen zu versorgen.


Im Gespräch mit SZ Dossier sagte Salm in der estnischen Botschaft, wenige Meter vom Bendlerblock entfernt, er habe oft das Gefühl gehabt, dass Estland mehr tun könne. Sein Blick auf den Ist-Zustand ist alarmierend: „Europa ist nicht bereit für einen Krieg“, sagte er. „Tatsache ist, dass die Verteidigungsbereitschaft der europäischen Nationen niedriger ist als vor 2022.“


Salm ist der höchste Beamte in Estlands Verteidigungsministerium. Vergangene Woche war er zu Gesprächen in Berlin, noch in dieser Woche verlässt er seinen Posten. Wie er zuvor in einem Fernsehinterview erklärte, sei er zurückgetreten, um Kritik daran äußern zu können, dass seine Regierung nicht auf Vorschläge eingegangen sei, die estnischen Munitionsvorräte aufzustocken.


Wie er die Debatte um die deutsche Ukraine-Unterstützung wahrnimmt? „Nun, ich denke, es ist eine nüchterne Erkenntnis der Tatsache, dass wir im dreißigsten Monat des Krieges sind, dass es eine Ermüdung gibt“, sagte Salm. Es werde politisch immer komplizierter, nicht nur in Deutschland.


Aber: „Die Unterstützung wird auch im Jahr 2025 noch da sein, die Leute arbeiten fleißig daran.“ Deutschland habe dabei „großartige Arbeit“ geleistet. „Und ich denke, man kann mit Fug und Recht behaupten, dass ein großer Teil dieser Arbeit nicht ausreichend gewürdigt wurde“, sagte Salm. Es sind Sätze, die seine Gesprächspartner im Kanzleramt gerne hören.


Die Ukraine hat den Krieg noch nicht gewonnen, noch immer sind 18 Prozent des Landes besetzt. Gleichzeitig verschärfen sich die Probleme in der Welt. Estland habe deshalb schnell erkannt, dass es nicht wirklich erfolgversprechend sei, nach Berlin zu fahren und den Deutschen zu sagen, was sie tun müssen, ohne in Tallinn die Hausaufgaben erledigt zu haben. In dem baltischen Land spiele auch die räumliche Nähe zu Russland eine Rolle: „In Estland werden die Militärausgaben durch eine Bedrohungswahrnehmung getrieben. In Deutschland ist das nicht so. Das ist eine Tatsache.“


Seine Ableitung daraus: Man müsse klüger und besser erklären. „Wenn wir über mehr Verteidigungsausgaben sprechen, dann könnte man im gleichen Satz die Botschaft aussenden: Okay, wir investieren mehr Geld, das schafft mehr Arbeitsplätze.“


Die Antwort auf das Problem seien also höhere Verteidigungsausgaben, mehr Hilfen für die Ukraine, eine bessere Haltung und klare Signale an Russland. Moskau habe sich auf den „historischen Weg gemacht, die Sicherheitsarchitektur in Europa“ zu verändern. „Sie werden nicht aufhören.“


Estland, das wird aus dem Gespräch deutlich, ist beschäftigt mit Moskau, der Fokus Tallinns liege „ausschließlich auf Russland“. Doch geopolitisch tun sich auf der Welt auch andere Probleme auf. „Wir haben ein starkes Vertrauen in unsere Verbündeten, die genau beobachten, was China tut“, sagte Salm. Dabei gebe es auch die ein oder andere Überschneidung: „Wir haben den Eindruck, dass die Absichten von Russland und China auf einer sehr unangenehmen Ebene übereinstimmen.“

Fast übersehen

4.

Streit um das Bundeswaldgesetz: Das Waldgesetz von 1975 „atmet noch den Geist einer Zeit, die ein ‚Waldsterben‘ nicht kannte, geschweige denn eine Klimakrise“, schreibt Michael Bauchmüller in der SZ. Die große Reform ist der Entwurf, den Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) vorgelegt hat, aber nicht. So lautet die Kritik. Anders als in einer früheren Version vom vergangenen Herbst, über die es viel Streit gab, soll nun die „Ökosystemleistung“ des Waldes hervorgehoben werden – und nicht nur sein Nutzen für Forstwirtschaft und Erholung.


Finger weg: Der Waldboden erhält darin mehr Schutz. Und bei Aufforstungen sollen nur noch „standortgerechte Forstpflanzen“ zum Zuge kommen. Für einen Kahlschlag von mehr als einem Hektar Fläche braucht es künftig eine Genehmigung. Der Entwurf mache den Waldbesitzern das Leben unnötig schwer, klagen hingegen die Familienbetriebe Land und Forst. Die Koalition dürfe sich nicht wundern, wenn vor lauter Regelungswut am Ende von zwei Millionen Waldbesitzern eine halbe Million die Nase voll habe und die Pflege ihrer Wälder aufgebe. Der Verband hat bereits eine Kampagne gestartet, sie heißt: „Finger weg vom Bundeswaldgesetz“.


Passt schon, sagen die Liberalen. „Aktuell sehe ich keinen Handlungsbedarf, das Bundeswaldgesetz zu ändern“, sagte Karlheinz Busen, forstpolitischer Sprecher der FDP. Obendrein gehe der Entwurf über das hinaus, was im Koalitionsvertrag vereinbart sei. „Das ist für die Freien Demokraten nicht machbar.“ Doch Minister Özdemir will nicht lockerlassen: „Dass ein 50 Jahre altes Bundeswaldgesetz angesichts der Klimakrise und ihrer verheerenden Folgen nicht zeitgemäß ist, sollte außer Frage stehen.“

5.

Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) ist schon wieder von einem Datenleck betroffen. Das Recherchenetzwerk Correctiv berichtet, ihm läge ein Datensatz von 70.000 Personendaten vor, der bis in jüngster Vergangenheit ungeschützt im Netz verfügbar gewesen sei. Schon im März hatte es bei der Partei einen ähnlichen Vorfall gegeben, dieser nun ist größer. In einem ihrer Newsletter informierte die Partei am späten Montagabend über den Vorfall.


Untersuchungen laufen: „Nach unserem derzeitigen Kenntnisstand dürften lediglich die E-Mail-Adresse, sowie Vor- und Nachname, keinerlei Adress- oder Kontodaten betroffen sein“, hieß es darin. Der Vorfall sei den relevanten Behörden, einschließlich Staatsanwaltschaft und Datenschutzbehörde, gemeldet worden. Während Correctiv von einem Datenleck spricht, sagte ein Parteisprecher: „Wir gehen von einem Cyberangriff aus.“ Zwischenstände könne er nicht nennen. „Wir untersuchen das.“

6.

Klatsche für Andreas Scheuer: Das Verwaltungsgericht Köln hat die Regeln für die milliardenschwere Auktion von Mobilfunkfrequenzen aus dem Jahr 2019 für rechtswidrig erklärt. Die Richter sehen eine „massive Einflussnahme“ durch das Verkehrsministerium unter Leitung des damaligen Ministers Andreas Scheuer (CSU) auf die Bundesnetzagentur als erwiesen an, die Unabhängigkeit der Behörde sei in dem Fall nicht mehr gewährleistet gewesen. Bei der Auktion für den Mobilfunkstandard 5G hatten die vier Netzbetreiber Telekom, Vodafone, Telefónica und 1&1 Frequenzen für insgesamt rund 6,6 Milliarden Euro ersteigert.

Unter eins

Ob Gaspipelines, LNG-Terminals oder Unterseekabel – unsere hochsensiblen Infrastrukturen sind derzeit nur unzureichend geschützt.

Konstantin von Notz (Grüne), Vorsitzender des Parlamentarischen Kontrollgremiums, forderte im Gespräch mit SZ Dossier „echte Schritte zur Erhöhung der Wehrhaftigkeit“

Zu guter Letzt

Es ist der erneute Versuch, Journalistinnen und Journalisten einzuschüchtern: Unbekannte haben einen Farbanschlag auf das Tagesspiegel-Gebäude in Kreuzberg verübt. Sie beschmierten die Fassade am Haupteingang mit roter Farbe, auf ein Rolltor sprühten sie das rote Dreieck der Hamas und den Spruch „German Media Kills“.


Wie der Tagesspiegel mitteilte, habe ein Pförtner die Schmierereien gestern gegen 3:30 Uhr entdeckt. Anzeige wurde erstattet, der Staatsschutz ermittelt wegen Sachbeschädigung mit politischem Hintergrund. Das rote Dreieck kann dabei als manifeste Drohung verstanden werden, nutzt die Terrororganisation Hamas es doch seit dem Überfall auf Israel, um Feinde zu markieren. Das dürfte auch in der Hauptstadt angekommen sein, bei denjenigen, die immer wieder Berliner Gebäude beschmieren, etwa die SPD-Parteizentrale und die Humboldt-Universität.


Journalisten als Feinde? „Passt in die lange Liste von Angriffen und Einschüchterungen an die freie Presse, die wir beim DJV immer wieder beklagen“, schrieb Tagesspiegel-Kollege Philipp Blanke auf X. Erst vor wenigen Wochen hatten zwei Personen dem Bild-Reporter Iman Sefati nach einer von Israelgegnern gekaperten Demo vor seiner Haustür aufgelauert, eine davon bedrohte ihn mit einem Messer.


Danke! Dem Team in Berlin und den Kolleginnen in Australien.

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Florian Eder

Leiter SZ Dossier