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Nutzungsrechte erwerbenSo beobachten wir die Landtagswahlen: Ein praktischer Leitfaden
Freitag, 30. August 2024Florian Eder
Tim Frehler
Gabriel Rinaldi
Schnelldurchlauf:
Sperrklausel begünstigt Vetomacht der AfD +++ Wie man um taktische Wähler wirbt +++ Achtung, Fallhöhe! +++ Sahra sagt, was Katja kann? +++ Die Linke und der Aufbau Ost +++ So ähnlich sind sich die Parteien wirklich +++ Kampf ums goldene Ticket +++ Bundesregierung stemmt sich ins Ruder
Frische Zahlen: Das ZDF-Politbarometer von gestern spät, das letzte vor der Wahl am Sonntag, sieht in Sachsen eine knappe Mehrheit für die aktuelle Regierung aus CDU, Grünen und SPD vorher. Auch für eine Allianz aus CDU und Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) würde es reichen.
In Thüringen: Die Linke, der Ministerpräsident Bodo Ramelow angehört, käme laut der Projektion der Forschungsgruppe Wahlen nur noch auf 13 Prozent. Eine Koalition aus CDU, BSW und SPD hätte aktuell eine knappe Mehrheit, sonst aber kein Bündnis über Brandmauern hinweg.
Guten Morgen. Das ist im Grunde: wie gehabt. Solingen scheint eingepreist, keine großen Verschiebungen. Umso wichtiger die Kleinen, die in beiden Ländern noch vieles bewegen können. Hier sind acht Punkte, auf die wir achten, wenn wir hier vom Dossier am Sonntag aus Dresden, Erfurt und Berlin berichten.
Eine Sonderausgabe: Willkommen am Platz der Republik.
Was wichtig wird
Karma hat sich schon ans Werk gemacht. Gerade noch wollten die Ampelparteien in Berlin eine Verschärfung der Sperrklausel durchsetzen, im Dienste, so hieß es, eines vornehmeren Ziels: nämlich einer Verkleinerung des „aufgeblähten“ Bundestages, als Zeichen an die Menschen und sowieso als Selbstzweck, in jedem Fall zum Nachteil kleinerer Parteien. Die von den Großen seit jeher geäußerten Sorgen um Stabilität und Regierungsfähigkeit sind der Grund, warum überhaupt manche Stimmen mehr wert sind als andere.
Wenn die Balken nicht wachsen: Dann schauen wir am Sonntag um 18 Uhr einmal darauf, wie es sich für die Ampelparteien in den Schuhen der Kleinen geht. Zweitens auf die dramatischeren Auswirkungen: In Thüringen und Sachsen könnte am Sonntag die Sperrklausel darüber entscheiden, ob die AfD eine Sperrminorität in den Landtagen bekommt. Und drittens warten wir, ob die Debatte über die Fünf-Prozent-Hürde schon am Wahlabend oder erst in der kommenden Woche beginnt.
Konkrete Szenarien: Sollten SPD und Grüne unter die Fünf-Prozent-Grenze fallen, könnte das neue sächsische Landesparlament aus drei Parteien bestehen. Die AfD hätte dann ziemlich sicher mehr als ein Drittel der Abgeordneten. Wenn in Thüringen neben den „weiteren“ Parteien auch FDP und Grüne die Hürde reißen, ist eine Vetomacht leichter – mit weniger Wahlstimmen – zu erreichen; angesichts der Brandmauern der CDU nach links und rechts ist erneut eine Lage ohne politische Mehrheit möglich.
Was soll die Klage, Wahlen finden ja immer im geltenden Wahlrecht statt – man muss halt wissen, was in der Kabine zu tun ist. Der Sonntag ist ein Fest für taktische Wähler. Es gibt sogar Orientierungsportale, um etwa diejenigen Kandidaten ausfindig zu machen, die im Wahlkreis am ehesten vor der AfD landen könnten.
„Staatspolitische Verantwortung“: An den Wahlkampfständen sagt die Thüringer Bundestagsabgeordnete Elisabeth Kaiser (SPD) natürlich, „wer soziale Politik will, muss SPD wählen“. Sie betont dabei auch die Regierungserfahrung der Sozialdemokraten. Aber natürlich spüre sie „staatspolitische Verantwortung“ für das Ergebnis, sagte Kaiser SZ Dossier. „Wenn die Grünen nicht im Landtag sind, hat die AfD höchstwahrscheinlich eine Sperrminorität.“
Fokus auf die Zweitstimme: Taktisches Wählen treibe viele Unentschlossene um, beobachteten Madeleine Henfling und Bernhard Stengele (Grüne). Die Spitzenkandidaten richten sich verstärkt an diese Gruppe, damit die Taktik sei, grün zu wählen. Um eine AfD-Vetomacht zu verhindern, werben sie für grüne Zweitstimmen, darauf habe man die Kampagne von Beginn an aufgebaut. „Die Erststimme soll und kann ausdrücklich für den demokratischen Kandidaten eingesetzt werden, um möglichst viele Direktmandate der AfD zu verhindern“, sagte Henfling SZ Dossier.
Ampel „abstrafen“: „Sogar eher linksgerichtete Menschen sagen uns, sie würden die CDU wählen, um die AfD zu verhindern“, sagte uns Ines Schwerdtner von der Linken. Sie hält entsprechend wenig davon: „Taktisch wählen hat noch nie etwas gebracht.“ Und: „Dass die Ampel abgestraft wird, geschieht auch zu Recht.“
Im Wahlkampf hat sich der Rechtsextremist Björn Höcke auf Plakaten schon als „Ministerpräsident“ ablichten lassen. Aber da geht noch eine Etage mehr auf dem Sprungturm: Es gibt diesen neuen Propagandafilm über ihn, er heißt „Der lange Anlauf“. Gemacht von Leuten aus dem extrem rechten Spektrum, es kommen auch nur Leute zu Wort, die Höcke wohlgesonnen sind, wie sein Büroleiter. Der berichtet von einer Frau, die Höcke bei einer Wahlkampfveranstaltung gesagt habe, er sei ihr „neuer Messias“.
Erlöser mit schwachem Magen: Beim Parteitag in Essen dieses Jahr trat Höcke kaum in Erscheinung, seine Kandidatin fürs Schiedsgericht fiel durch, ein Antrag, den er stellte, erhielt nicht die erforderliche Mehrheit. Dass irgendeine Messiasfigur schon einmal wegen eines flauen Magens ein Fernsehduell absagen musste, hat man auch noch nicht gehört. In der Partei gibt es mittlerweile Netzwerke, die zwar inhaltlich nicht minder radikal sind, aber smarter auftreten. Beobachter bringt das zu der Annahme, sein Einfluss schwinde. In einer sehr lesenswerten Recherche in der SZ hieß es neulich, Höckes Zugriff auf die Partei habe seit dem Parteitag in Riesa vor zwei Jahren „spürbar an Kraft verloren“.
Solche Töne könnte Höcke herunterdimmen, wenn er am Sonntag ein starkes Ergebnis einfährt, gar die Sperrminorität erreicht. Er selbst gab beim Landesparteitag im vergangenen Jahr das Ziel „33 Prozent plus X“ aus. Die jüngsten Umfragen sehen seine Partei bei 30 Prozent, damit wäre die AfD, die in Thüringen als gesichert rechtsextremistisch gilt, stärkste Kraft im Landtag. Im parteiinternen Vergleich lagen die Nachbarn aus Sachsen aber zwei Prozent vor den Thüringern. Sollte das so bleiben, wäre Höcke nach der Wahl das, was er jetzt auch ist: Der Vorsitzende eines Landesverbandes – und nicht einmal der mit dem besten Ergebnis.
Angetreten als politischer Neuling, könnte das Bündnis Sahra Wagenknecht aus dem Stand heraus Teil einer (oder beider) Landesregierungen werden, sie womöglich sogar anführen. Für die Partei zweifellos ein Erfolg, aber auch ein Risiko. Wagenknechts politisches Modell besteht zu weiten Teilen daraus, dagegen zu sein: gegen Waffenlieferungen an die Ukraine, gegen das Gendern, gegen „die da oben“. Das hilft sicherlich im Wahlkampf.
Sprint durch die Institutionen: Falls BSW-Politiker aber im Herbst mitregieren, ändern sich die Vorzeichen. Regieren heißt, Kompromisse zu machen. Wer führt, macht Fehler und muss sich an den eigenen Taten messen lassen. BSW-Minister werden auch schwerer behaupten können, sie seien anders als die anderen, wenn sie selbst in den Limousinen sitzen. Das alles ist der Preis fürs Mitregieren. Die Frage ist, in welcher Höhe Wagenknecht ihn bezahlen will.
Der Zauberstaub wird noch gebraucht: Im kommenden Jahr ist Bundestagswahl. Anders als jetzt steht Wagenknecht dann auch selbst zur Wahl. Fehler, die bis dahin in Thüringen oder Sachsen passieren, kann sie nicht gebrauchen, sie können ihr Image zerkratzen, Kompromisse das Profil schleifen. Es wundert also nicht, dass die Chefin sich zu möglichen Koalitionsverhandlungen schon angekündigt hat.
Das Thüringen-Duell: Katja Wolf hingegen, die Spitzenkandidatin in Thüringen, gilt als Pragmatikerin. Sie war zwölf Jahre lang Oberbürgermeisterin. Kein Job, bei dem man sich in Ideologie verlieren kann – sondern einer, der Menschen anzieht, die gestalten wollen. Entscheidend werden beim BSW etwaige Koalitionsverhandlungen sein: Daran wird man ablesen können, wie weit Wagenknechts Einfluss reicht und wie viel Spielraum sich die anderen nehmen können.
Gleich am Sonntag geht es los: Wolf und Wagenknecht treffen sich in Erfurt.
Ines Schwerdtner will im Oktober Parteivorsitzende der Linken werden. Das an sich ist keine leichte Aufgabe, könnte ab Montag aber noch mühseliger werden. In Thüringen könnte Bodo Ramelow sein Amt als Ministerpräsident verlieren, in Sachsen droht die Partei aus dem Landtag zu fliegen. Umfragen sehen die Linke gerade bei 14 (Thüringen) und vier (Sachsen) Prozent. Und das als einstige Ost-Partei.
Es geht „um alles“: Schwerdtner war zuletzt in beiden Bundesländern unterwegs. In Thüringen habe sie viele positive Rückmeldungen bekommen für Ramelow und die Landesregierung. In Leipzig kämpfe man um die Direktmandate, aber in der Fläche, auf dem sächsischen Land, da sei es „richtig schwer“, sagte sie SZ Dossier. Die Stimmung dort: „Jetzt geht’s hier um alles.“
Was käme, kommt, danach? „Jahrelanger Parteiaufbau“, sagte Schwerdtner, vor allem in Sachsen. Sie hat dabei bereits die Landtagswahlen in fünf Jahren im Blick – und schielt auf die Patzer der Konkurrenz. „Die Enttäuschung über das BSW wird sehr groß sein“, sagte sie. Sie rechne mit internen Verwerfungen in Wagenknechts Partei, „wenn sie Koalitionen eingehen“. Die Linke sei dann immer noch da, sagte Schwerdtner: Die Augen richten sich am Sonntag und danach auch hier auf Wagenknecht.
Wählerinnen und Wähler haben Anliegen. Bei welchen Parteien sehen sie sie besser vertreten? Die Bundesdatenschau liefert exklusiv für den Platz der Republik eine Ähnlichkeitsanalyse der Parteien anhand ihrer Wahl-O-Mat-Antworten. Also, wer unterscheidet sich wie weit von wem?
Grün-Rot-Rot: In Thüringen besteht die größte Gegensätzlichkeit zwischen AfD und Grünen. Am ähnlichsten sind sich Grüne und Linke. Das BSW hat die größten Ähnlichkeiten mit der SPD und ist allen Parteien mehr ähnlich als gegensätzlich – es hat eben von allem etwas im Angebot, programmatisch. Der größte Gegensatz in Sachsen besteht zwischen CDU und Grünen, die größte Ähnlichkeit zwischen SPD und Grünen.
Die Analyse: Das Maß für die Übereinstimmung der Parteien ist die Kosinus-Ähnlichkeit ihrer Antworten auf die Wahl-O-Mat-Fragen. Wer wissen will, was es mit Vektoren und Skalarprodukten auf sich hat, findet hier in einem Thread zu einer ähnlichen Analyse mehr. Übrigens: 46 Prozent aller deutschen Wahlberechtigten sagen laut einer neuen YouGov-Umfrage, dass sie den Wahl-O-Mat schon einmal verwendet haben. 30 Prozent gaben an, dass die Nutzung des Tools ihre Wahlentscheidung beeinflusst habe.
Schon ist es also „Spätsommer“ geworden, der von CDU-Chef Friedrich Merz avisierte Zeitraum, in dem einmal ein Frühstück wie einst in Wolfratshausen ansteht. Dehnbar ist er vielleicht noch in den Herbst hinein, aber es wird ernst mit der Entscheidung der Unionsparteien für einen Kanzlerkandidaten.
Es sind die entscheidenden Wochen. Ein sehr gutes Ergebnis für die CDU in Sachsen und Thüringen, Wege zur Regierungsbildung eingeschlossen, ginge auch mit dem Bundesvorsitzenden nach Hause, wobei Markus Söder vorsorglich viel Wahlkampfhilfe bei Michael Kretschmer leistete: In der Disziplin, sich ganz bescheiden selbst auf die Schulter zu klopfen, ist der CSU-Vorsitzende Meister aller Klassen.
Die Lage in der Union, nochmal anders als 2021: In beiden Parteien macht sich eine Überzeugung breit, dass ihr gemeinsamer Kanzlerkandidat, unabhängig davon, wer es ist, ein goldenes Ticket löst und der nächste Bundeskanzler wird. Das erhöht Einsatz und Risikofreude. Worauf wir also achten: auf jeden Söder-Move.
Am Donnerstag einigte sich die Bundesregierung auf ein Paket von Maßnahmen mit dem Ziel einer Verschärfung von Migrations- und Asylrecht, eine verblüffend deutliche Reaktion auf den Merz-Vorwurf, dem Kanzler entgleite das Land.
„Aufenthaltsrechtliche Maßnahmen“ sind der Kern: Leistungskürzungen für Ausreisepflichtige, schnellerer Verlust des Schutzstatus, mehr Befugnisse für die Polizei, ein ernsthafter Versuch, der oft beklagten und stets geduldeten Sekundärmigration innerhalb der EU Herr zu werden. Weitere Messerverbote (auch Teil des „Sicherheitspaketes“) sind Beiwerk, nicht mehr die eigentlichen Lösungsvorschläge wie noch Anfang der Woche.
Events, my dear boy, events: Das furchtbare Messerattentat eine gute Woche vor den Wahlen hat die Koalition unter Druck gesetzt wie selten. Die Umfragen waren schon zuvor katastrophal für sie, ein Ausscheiden aller drei Ampelparteien aus beiden Landtagen lag eh diesseits der Fehlergrenze.
Na gut, aber ungern: „Schön wird’s nicht“, sagte Elisabeth Kaiser, die Thüringer SPD-Bundestagsabgeordnete, über den Wahlsonntag. Das Attentat von Solingen habe den Fokus auf Migration gelenkt. „Das hat uns die Chance genommen, Nichtwähler und Unentschlossene mit Themen wie Bildung oder Gesundheit zu erreichen“, sagte Kaiser.
Zwei Tage noch, bis die Wahllokale öffnen, und in denen die nun in Berlin erhoffte Botschaft einsickern könnte, man habe verstanden.
Unter eins
Kanzler Olaf Scholz (SPD) beim Besuch eines Ringerclubs über seine Boxkarriere. Es blieb beim Reinschnuppern: Nach „nur zwei Stunden��� hängte er die Boxhandschuhe wieder an den Nagel
Zu guter Letzt
Die Landtagswahlen am Sonntag betreffen etwa sechs Millionen Menschen direkt, aber selten entschieden Wählerinnen und Wähler so viel stellvertretend für alle wie nun in Sachsen und Thüringen: wer Chancen aufs Kanzleramt hat, wie arg die Disruption für das deutsche Parteiensystem ist, ob Verfassungsfeinde dem demokratischen Betrieb einen Stock in die Speichen halten können.
Geht es nach AfD und BSW, dann würden sie in Landtagswahlen Weltpolitik betreiben. Aber so weit sind wir dann doch noch nicht, und das Fenster schließt sich: Für „den Osten“ endet bald eine goldene Zeit in der Aufmerksamkeitsökonomie. Wohl jenen Talkshowgästen, Analystinnen und Kommentatoren, die gleich nahtlos anschließen können: Thüringen oder Texas, Hauptsache, die Ereignisse passen sich der Analyse an.
Danke! Nach Australien, wo der Nachtdienst wachte.