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Merz mauert seine Hintertüren zu

Freitag, 24. Januar 2025

Guten Morgen. Wie rasch die Welt sich an Donald Trump gewöhnt! Sogar unser Bundeskanzler mahnte diese Woche in Davos, nicht wegen jeder Äußerung des US-Präsidenten gleich „aufgeregte, existenzielle Debatten“ zu beginnen. Eine steile Lernkurve für jemanden, der neulich noch eine Pressekonferenz einberief, um aufgeregt zu einer für Grönland tatsächlich existenziellen Debatte beizutragen.


Eine großzügige Prise Antiamerikanismus hat bislang nicht zur Wende in Olaf Scholz’ Wahrnehmung durch Wählerinnen und Wähler beigetragen. Sein erneuter Versuch, die Ukraine gegen Rentner auszuspielen, hat ihm ebenso wenig geholfen wie das bange Warten auf einen Ausrutscher von Friedrich Merz. Seit Beginn seines Wahlkampfs im November gab es keine nennenswerte Bewegung in den Umfragen.


In der Frage der Kanzlerpräferenz tat sich wieder nichts Entscheidendes für Scholz, laut dem gerade heute früh erschienenen Morning Update von ZDFheute zum neuen Politbarometer: Er ist der abgeschlagene Dritte. SPD-Strategen sagen uns, sie hätten sich bis Ende Januar Zeit gegeben bis zum Begräbnis der Erwartung, es werde sich schon noch alles drehen.


Kleingeister! Es sind noch vier Wochen bis zur Wahl, in denen jedenfalls im Kanzleramt eine Hoffnung leben kann: dass Trump als disruptives Phänomen hierzulande doch noch das Verlangen nach altbekannter Dysfunktion weckt.


Willkommen am Platz der Republik.

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Was wichtig wird

1.

So entschieden, ohne einen erkennbaren Rückzugsweg, hat Friedrich Merz bisher nicht über seine Pläne in Asylpolitik und Aufenthaltsrecht gesprochen. Seine fünf Punkte, umzusetzen „am ersten Tag“ im Amt, wenn er denn Kanzler wird, seien nicht verhandelbar: Da hat sich jemand ein Stilvorbild genommen und schon dessen Filzstifte bestellt.


Skin in the game: „Mir ist es völlig gleichgültig, wer diesen Weg politisch mitgeht“, sagte Merz. Er gehe keinen anderen. Das gilt nach aller Voraussicht dennoch vorbehaltlich des Erfolgs bei der Suche nach einem Koalitionspartner. Merzens Balzruf: „Kompromisse sind zu diesen Themen nicht mehr möglich.“


Merz geht ins Risiko: Nun hat es nach Solingen, Magdeburg und nun Aschaffenburg nicht an entschiedenen Worten gemangelt. Für Merz und die Union hängt vieles – Glaubwürdigkeit in Migrationsfragen und ihre Chancen, die AfD auf Abstand zu halten – von der Umsetzung der gestrigen Ankündigung ab: Scheiterte sie daran, wäre eine weitere demokratische Kraft bis 2029 in die Kluft zwischen Wollen und Tun gestürzt.


Was Merz unmittelbar anweisen will: Zurückweisungen an den Grenzen, das Recht auch für die Bundespolizei, Haftbefehle für Ausreisepflichtige zu beantragen; Haft oder Gewahrsam für Menschen, die das Land verlassen müssen, wofür der Bund mehr Plätze schaffen soll. Der Bund dürfe Abschiebungen nicht allein den Ländern überlassen. Änderungen im Aufenthaltsrecht sollen ergeben, sagte Merz, „dass jeder ausreisepflichtige Straftäter und Gefährder in zeitlich unbefristeten Ausreisearrest genommen werden kann“.

2.

Der russische Krieg gegen die Ukraine sei nicht nur eine Zeitenwende, sagte Merz, sondern ein Epochenbruch. Daher seine Pläne zu einer grundsätzlichen Neuausrichtung der deutschen Außenpolitik, über die der Kanzlerkandidat der Union in einer außenpolitischen Grundsatzrede bei der Körber-Stiftung in Berlin sprach.


Alles Chefsache: Auch um den „permanenten Streit“ mit dem Auswärtigen Amt aufzulösen, plant Merz einen Nationalen Sicherheitsrat einzurichten, in dem auch Länder und Sicherheitsbehörden vertreten sein sollen. Wo? Naja, im Kanzleramt.


Prioritäten: Eine erweiterte Nationale Sicherheitsstrategie soll im ersten Jahr entstehen, unter den Überschriften Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit, europäische Souveränität, Beendigung des Kriegs in der Ukraine. Kyiv müsse den Krieg „gewinnen“, sagte Merz. Der Aufbau einer europäischen Verteidigungsindustrie liege im strategischen Interesse Europas.


Bevor es jedoch um mehr Geld gehe, sollten im Beschaffungswesen „drei S“ erreicht werden: simplify, standardize, scale – vereinfachen, standardisieren und dann in Massen produzieren. Ein EU-Verteidigungsfonds sei dann nicht nötig: Den sicher nur sehr kleinen Rest kratzt eine Regierung unter seiner Führung dann aus den Resten des Bürgergelds zusammen.


Freunde, Partner, Alliierte: Merz will „Vertrauen zurückgewinnen“ und die Beziehungen zu Polen und Frankreich priorisieren. Was Israel angeht: „Deutschland steht nicht zwischen den Stühlen, sondern Deutschland steht fest an der Seite Israels.“


Vergossene Milch: „Die Beziehung Deutschlands zu den USA war, ist und bleibt von überragender Bedeutung“, sagte er. „Nun ist es an uns, mehr für unsere eigene Sicherheit und Verteidigung zu leisten.“ Um eine Zollspirale zu vermeiden, wolle er Trump eine Positivagenda unterbreiten, um so wieder zu Verhandlungen über ein Handelsabkommen zu kommen. „Jetzt rächt sich, dass TTIP damals gescheitert ist.“ Überhaupt: „Es muss um eine deutsche Globalisierungspolitik gehen.“


Soso. Trump bekundete gestern: „Ich liebe Europa.“ Dennoch habe er „einige sehr ernsthafte Beschwerden über die EU“, etwa den Handelsbilanzüberschuss gegenüber den USA, sagte er, nach Davos zugeschaltet. Mehr dazu in der SZ.


Der Staat ist keine Versicherung: Zurück zu Merz. Unternehmen könnten gute Gründe für Geschäfte in und mit China haben, sagte er. Das Land sei aber kein Rechtsstaat nach deutschen Maßstäben. Daher müssten Unternehmen „mit großen Verwerfungen“ rechnen. Es komme nicht infrage, dass Unternehmen durch Investitionen bewusst Risiken in China eingingen und dann anschließend der Steuerzahler für etwaige Schäden und Verluste aufkommen solle.


Karrieretipp: Brush up on your English. Um international flüssiger arbeiten zu können, will Merz niemanden aus der Union zum Minister oder Staatssekretär ernennen, der nicht wenigstens „alltagstaugliches Englisch“ spricht.

3.

Fast die Hälfte der Deutschen will sich aus dem Wettstreit zwischen den Vereinigten Staaten und China heraushalten. Das zeigt eine repräsentative Umfrage von YouGov für SZ Dossier. Gefragt, auf welche Seite sich Deutschland stellen sollte, gaben 45 Prozent „weder noch“ an, zusätzliche zwölf Prozent „weiß nicht“. In Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit liegen die Prioritäten anderswo.


Weiter so: Während 19 Prozent angaben, Deutschland solle sich stärker an die Seite der USA stellen, auch wenn das die Beziehungen nach Peking verschlechtern könnte, sagten 24 Prozent, Deutschland solle lieber die Beziehungen nach China so beibehalten wie bislang – auch zum Preis, dass sich die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen nach Washington verschlechtern könnten.

Deutsche wollen sich aus USA-China-Wettstreit heraushalten
in Kooperation mitYouGov

Eindeutig unentschlossen: Auch in den Wählergruppen der vergangenen Bundestagswahlen gibt es keine klare Tendenz zu einer stärkeren Bindung an die USA. Am ehesten ist sie bei Unions- und FDP-Wählern ausgeprägt: 28 und 24 Prozent finden, Deutschland soll sich stärker an die Seite der USA stellen. Bei Wählerinnen und Wählern von SPD, Grünen und AfD ist es – so wie im Gesamttrend – eher andersherum.

4.

Laut einer Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (Dezim) könnten sich 17,6 Prozent der Menschen mit Bezügen in ein anderes EU-Land vorstellen, ihre Stimme der AfD zu geben. Unter Menschen mit Bezug in den arabischen Raum oder in die Türkei sind es 19,7 Prozent. In der Gesamtheit der Befragten – also bei Menschen mit und ohne Migrationshintergrund – liegt der Anteil potenzieller AfD-Wähler bei 21,6 Prozent. Die Studie wird heute vorgestellt und liegt SZ Dossier vor.


Keine Alternative: Die höchste Wahrscheinlichkeit, AfD zu wählen, findet sich bei Menschen mit Verbindung zur ehemaligen Sowjetunion. 29,2 Prozent von ihnen könnten sich vorstellen, die AfD zu wählen. Insgesamt, so zeigen es die Werte, gilt die AfD in den drei Gruppen von Menschen mit Migrationshintergrund aber als die am wenigsten wählbare Partei. Die SPD etwa kommt in der Gesamtheit aller Befragten auf einen potenziellen Wähleranteil von 74,4 Prozent.


Potenzial für das BSW: Auffällig sind die Unterschiede, was potenzielle Wählerinnen und Wähler des BSW anbelangt. Unter Menschen ohne Migrationshintergrund können sich 34,6 Prozent der Befragten vorstellen, Wagenknecht und Co. zu wählen. In der Gruppe mit Bezug zum arabischen Raum und der Türkei sind es hingegen 55,5 Prozent der Befragten.


Zur Methodik. Anders als bei der Sonntagsfrage fragten die Fachleute des Dezim: „Mit welcher Wahrscheinlichkeit würden Sie Partei X wählen?“ Die Befragten konnten dann für jede Partei einen Wert zwischen 1 („würde ich mit Sicherheit nicht wählen“) bis 7 („würde ich mit Sicherheit wählen“) angeben. Ab dem Wert 3 wurden die Stimmen als potenzielle Wähler gewertet. Eine befragte Person kann also bei mehreren Parteien als potenzieller Wähler gelten. Insgesamt nahmen 2689 Wahlberechtigte an der Umfrage teil, die zwischen Dezember 2023 und März 2024 stattfand. Als Person mit Migrationshintergrund gelten in der Studie Menschen, die selbst oder deren mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurden.

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Tiefgang

Am Sonntag treffen sich die Grünen zum Parteitag in Berlin, die große Bühne, die perfekte Gelegenheit, um dem eigenen Wahlkampf einen Schub zu verleihen, Botschaften zu wiederholen. Die Scheinwerfer werden auf Robert Habeck, Annalena Baerbock und die Parteivorsitzenden gerichtet sein.


Doch die Affäre um den Bundestagsabgeordneten Stefan Gelbhaar wirft einen gigantischen Schatten auf diese Bühne. Sie saugt all das Licht auf, in das die Grünen ganz andere Dinge stellen wollten: Zuversicht, Zusammenhalt, den Bach rauf, nicht runter. Über dem Parteitag und dem weiteren Wahlkampf schwebt die bange Frage, ob sich die Partei befreien kann aus ihrer misslichen Lage. Am Sonntag sind es noch genau vier Wochen bis zum Wahltag.


Zunächst sah es so aus, als ließe sich die Causa Gelbhaar auf Berliner Landesebene regeln, war alles nicht schön, geht aber vorbei. Bis die Sache Ende vergangener Woche eine dramatische Wendung nahm, bis der RBB zugeben musste, dass eine der Hauptbelastungszeuginnen höchstwahrscheinlich gar nicht existiert, bis zumindest Teile der Vorwürfe wegen sexueller Belästigung gegen Gelbhaar in sich zusammenfielen. Das war am Freitagabend.


Das Wochenende verging und mit ihm die Möglichkeit, aus Sicht der Grünen kommunikativ in die Offensive, vor die Lage zu kommen. Robert Habeck schwieg bis zum Montag, Annalena Baerbock fühlte sich als Außenministerin nicht zuständig, die Parteivorsitzenden kündigten lediglich ein Ausschlussverfahren gegen die Politikerin an, die die falschen Aussagen gemacht haben soll. Vor die Presse traten Franziska Brantner und Felix Banaszak erst am Montag.


„Der Fall hat die Bestandteile, um zu einem richtig großen Skandal zu werden“, sagt Juliana Raupp, Professorin für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Sie forscht dort unter anderem zur Organisations- und Krisenkommunikation. Extrem wichtig in solchen Situationen sei der Faktor Zeit, sagt sie. Die Grünen hätten unterschätzt, welche Fahrt die Sache aufnimmt – und wie schnell. Anstatt erst einmal zu schweigen, hätten sie „gleich reagieren“ müssen, sagt Raupp.


Und auf eine andere Art: Nicht in bürokratische Sprache abrutschen, sondern dem Umstand Rechnung tragen, „dass es hier um Menschen geht und um Gefühle“. Das sei vor allem bei Skandalen wichtig, „die moralisch aufgeladen und emotional für viele Leute sind“. Die richtige Reihenfolge wäre also gewesen, zu sagen: „Wir sehen das Problem, wir nehmen es ernst und entschuldigen uns bei allen, die Schaden genommen haben. Und dann kümmern wir uns im nächsten Schritt um die Aufarbeitung.“


Eine Affäre wie diese hätte jeder Partei enormen Schaden zugefügt, die Grünen trifft sie aber besonders hart. Sie verstehen sich als feministische Partei, in der der moralische Maßstab und damit die eigene Fallhöhe höher liegt als anderswo. Als Rechtsstaatspartei sehen sie sich allerdings auch. Hinzu kommt: Noch immer halten sieben weitere Personen ihre Vorwürfe gegen Gelbhaar aufrecht, die Sache ist also auch auf dieser Ebene nicht erledigt.


Wie lange wirkt das jetzt noch nach? Wie könnte es weitergehen? „Es wird jetzt erst einmal noch eine Aufregungsphase geben“, sagt Juliana Raupp. Danach hänge es davon ab, wie glaubwürdig es der Partei gelinge, den aktuellen Fall aufzuarbeiten und Schritte zu unternehmen, damit sich so etwas nicht wiederholt. „Aber ob man das jetzt noch einfangen kann in dem Wahlkampf, weiß ich nicht.“ Tim Frehler

Fast übersehen

5.

Bitte anschnallen: In Brüssel nimmt ein großer „Omnibus“ Fahrt auf. Die EU-Kommission will mit dem so benannten Verfahren mehrere Gesetzgebungsverfahren wie die Lieferkettenrichtlinie CSDDD, die Pflichten zur Nachhaltigkeitsberichterstattung (CSRD) und die EU-Taxonomie entschlacken. Ziel der Reise ist eine wettbewerbsfähigere EU, auch mit Blick auf Trump. Es dürfte dabei zu Deregulierung nicht nur dem Namen nach kommen, sondern zu erheblicher Rodung, berichtete Fabian Löhe zuerst in unserem Dossier Nachhaltigkeit.


Dafür sprechen politische Signale nicht nur auf EU-Ebene: Die französische Regierung will in den nächsten Tagen eine entsprechende Empfehlung nach Brüssel schicken. Aus Deutschland ist der Druck besonders groß: Unisono fordern Scholz und Merz eine deutliche Reduktion der Pflichten zur Nachhaltigkeitsberichterstattung (CSRD) sowie eine Verschiebung. Ob es so kommt, will die Kommission spätestens am 26. Februar mitteilen. Das wäre drei Tage nach der Bundestagswahl.

6.

Schönbohm scheitert: Der frühere Präsident des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), Arne Schönbohm, ist mit einer Klage gegen seinen Dienstherrn gescheitert. Das Verwaltungsgericht Köln kam zu dem Schluss, das Bundesinnenministerium hätte sich ruhig stärker vor den Spitzenbeamten stellen können, nachdem er im ZDF Magazin Royale ehrabschneidend als Russlandfreund verunglimpft wurde. Ein Schadenersatzanspruch erwachse ihm daraus aber nicht.

Unter eins

Die USA können das entscheiden. Damit hat die Nato nichts zu tun.

Vibe shift in der Praxis: Generalsekretär Mark Rutte überlässt es den Alliierten, ob Vielfalt und Inklusion Einstellungskriterien bei ihren Streitkräften sind

Zu guter Letzt

Es gehört vieles überdacht in diesen Zeiten des großen Umbruchs, sogar mancher Leute aufrechte Gewissheit, der Staat sei gut, die Reichen seien böse.


Der sehr vermögende Medienunternehmer Michael Bloomberg kündigte nun an, die von Trump gerade mit dickem Filzstift gestrichenen Beiträge der USA zum UN-Klimafonds würden künftig aus privaten Mitteln und Stiftungen gedeckt, auch der seinen.


Was nun: nach links, nach rechts, zur Solidarität, zur Freiheit? Vielleicht erst einmal zur Sonne. Ein schönes Wochenende!


Danke! Dem Team in Berlin und in Australien.

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Florian Eder

Leiter SZ Dossier