Unsere Kernprodukte
Im Fokus
Weitere SZ-Produkte
Shops und Marktplätze
Media & Service
Partnerangebote
Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?
Anzeige inserierenMöchten Sie unsere Texte nachdrucken, vervielfältigen oder öffentlich zugänglich machen?
Nutzungsrechte erwerbenDeutschland ist Europas Sicherheitslücke
Freitag, 17. Mai 2024Von Felix Kartte
Schnelldurchlauf:
Lagebild +++ Deutschland ist Europas Sicherheitslücke +++ Putins steigender Stern in Moldau +++ Von der Leyens Krieg der Worte +++ Kampf um TikTok +++ Bald bei uns
Guten Tag. Früher habe ich mal in Brüssel gearbeitet, beim diplomatischen Dienst der EU, in der Abteilung, die Russlands Informationskrieg abwehren soll. In Berlin interessierte sich damals kaum jemand für unsere Arbeit.
Die Zeit gab den Warnern recht. Es waren vor allem die baltischen und skandinavischen Staaten, die vor Russlands Desinformationskampagnen warnten. Auch jetzt warnen sie wieder, die Balten, vier Wochen vor der Europawahl.
Sie wissen, dass Moskau seinen Krieg nicht nur mit Panzern führt. „Seit dem Moment unserer Unabhängigkeit hatten wir es mit Russlands bösartigen Einmischungsversuchen zu tun“, sagte Baiba Braže, Lettlands Außenministerin, SZ Dossier. „Wir sind froh, dass uns nun auch andere EU-Länder zuhören – mehr und mehr unserer Partner sind sich der Schwere der Bedrohung bewusst“, sagte Braže, die früher bei der Nato russische Propaganda bekämpfte.
Was tun wir hier? Das Internet sollte Zugang zu Wissen und Macht demokratisieren. Befeuert es heute den Untergang der Demokratie, im Jahr, in dem zwei Milliarden Menschen auf der Welt wählen gehen? Können demokratische Parteien es schaffen, die Dominanz der AfD zu brechen auf TikTok, YouTube oder Instagram, ohne selbst das Spiel der Populisten zu spielen?
Alles gute Fragen. Das Dossier Schattenspieler legt die digitale Meinungsmanipulation im Superwahljahr offen, zunächst für die kommenden sechs Wochen. Damit Sie Antworten finden, jenseits von Hype und Hektik. Und weil Sie fragen werden: Auf Lügen verlinken wir nicht, aus Gründen.
Angriff
Monitor der Meinungsmanipulation: Das geisterte diese Woche durchs Internet.
16. Mai: Russische Desinformation und Cyber-Angriffe laufen trotz EU-Sanktion offenbar weiter über Server in den Niederlanden.
15. Mai: Auf Telegram wird die falsche Behauptung verbreitet, Stimmzettel für die Europawahl wären ungültig, wenn sie ein Loch oder eine abgeschnittene Ecke hätten.
15. Mai: Kreml-Propagandistin Margarita Simonyan behauptet im Netz, die Ukraine stehe hinter dem Anschlag auf den slowakischen Regierungschef Robert Fico.
13.Mai: Emmanuel Macrons Spitzenkandidatin für die Europawahl, Valérie Hayer, gibt an, von Rechtsextremen in eine Fotofalle gelockt worden zu sein.
Auch jetzt, vor der Europawahl mische sich Russland systematisch ein, warnt Ministerin Braže. „Damit will es Vertrauen zerstören und demokratisch gewählte Anführer in Verruf bringen, gesellschaftliche Debatten polarisieren und radikalisieren und Einflussagenten in die Führungsebenen von EU-Mitgliedstaaten einschleusen“, sagte sie uns.
Keine Illusionen: An einer kürzlich aufgedeckten russischen Einflussoperation sind auch deutschsprachige Akteure beteiligt. Eine „Influencerin“ namens Alina Lipp etwa verbreitet Texte, die den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij in die Nähe von Kokainschmugglern rücken; Teil einer breit angelegten Propaganda-Kampagne des Kreml, um die Führung der Ukraine in westlichen Gesellschaften in Verruf zu bringen.
Bundesregierung sucht Strategie: In Berlin ist das Problembewusstsein für den Informationskrieg im Internet gestiegen, seit im Februar 2022 russische Panzer auf Kyiv zurollten. Russische Staatsmedien und Influencer-Netzwerke verbreiteten überall in Europa Kriegslügen, wonach die Ukraine etwa von einem Nazi-Regime beherrscht würde. Eine wirksame Strategie gegen Desinformation lässt die Bundesregierung bislang vermissen.
Ziel und Mängel: „Anders als viele unserer Verbündeten in Nord- und Osteuropa sind wir in Deutschland nicht hinreichend auf die Versuche der Beeinflussung demokratischer Willensbildungsprozesse aus Russland vorbereitet“, sagte Konstantin Kuhle, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der FDP im Bundestag. Dabei habe es der Kreml es insbesondere auf Deutschland abgesehen.
Wo die Demokratie ohnehin taumelt, kann Russland sie vielleicht zu Fall bringen.
In Moldau scheut der Kreml keine Mühen, um das unter Beweis zu stellen, spätestens bis zur Präsidentschaftswahl im Herbst. „Moskau hat das Budget für seine Einflusskampagne in Moldau noch mal aufgestockt, ungefähr 50 Millionen Euro waren es schon 2023“, sagt Valeriu Pasha, der einen Think-Tank in Moldaus Hauptstadt Chișinău betreibt. „50 Millionen – das sind 0.3 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts, umgerechnet auf Deutschland wären das ungefähr 11 Milliarden Euro, die Russland in einem Jahr in Desinformation und Subversionsversuche steckt“, rechnet er vor.
Seliges Berlin. 150.000 Euro hätten Kreml-Agenten im vergangenen Monat allein in Facebook-Anzeigen in Moldau gepumpt. Zum Vergleich, die SPD hat laut Facebook-Werbearchiv im April weniger als 10.000 Euro für bezahlte Anzeigen zum Europawahlkampf ausgegeben.
KI als Waffe: Im Fadenkreuz der Kampagnen immer wieder: Moldaus Präsidentin Maia Sandu. Sie ist heute in Berlin, zu Besuch bei Bundeskanzler Olaf Scholz. Wegen ihrer Harvard-Vita wird sie von der Kreml-Propaganda gern als Fleischwerdung westlicher Dekadenz dargestellt. Es kursieren irreführende Videos. In einem verkündet ihr KI-generierter Avatar, sie plane die öffentliche Gesundheitsversorgung abzuschaffen. In Moldau erreichen manche dieser Kampagnen mehrere Millionen Views, in einem Land also, das weniger Einwohner hat als Berlin.
Die Konsequenzen: messbar. Das sagt Valeriu Pasha. Laut Umfragen seines Instituts sei Putins Beliebtheit in der moldauischen Bevölkerung im Vergleich zum Vorjahr deutlich gestiegen, während die Unterstützung für den demokratischen Kurs der aktuellen Regierung bröckelt. Sollte Moldau seine Ambition auf einen EU-Beitritt aufgeben, dann wäre das nicht zuletzt ein geostrategischer PR-Gau für Brüssel.
Kein lokales Phänomen: Auch in anderen Ländern aus Moskaus Möchtegern-Einflusssphäre ist die Reichweite von Desinformation offenbar beträchtlich: 45 Prozent der Tschechen seien in den ersten Monaten dieses Jahres laut aktueller Analyse des Central European Digital Media Observatory mit Desinformation in Berührung gekommen. In der Slowakei waren es demnach sogar 58 Prozent. Die Reichweite von Desinformation sagt allerdings noch nichts über ihre Wirkung aus.
Verteidigung
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kündigte diese Woche ein umfangreiches Maßnahmenpaket an, um die EU vor ausländischer Einflussnahme abzuschirmen, sollte sie nach der Europawahl Kommissionspräsidentin bleiben.
Ankündigungen einer Spitzenkandidatin: Die Demokratie sei unter Druck wie nie zuvor, sagte von der Leyen in einer Rede auf dem Democracy Summit in Kopenhagen. Der Kreml lasse ein Mörserfeuer von Desinformation auf Europa los, mit der AfD als hörige Gehilfin, sagte sie: „Wollen wir zulassen, dass sie alles, was wir in 70 Jahren geschaffen haben, untergraben und zersetzen?“. Mit einem einem „Democracy Shield“ wolle sie diese Bedrohung abmildern.
Worte, die nach Stärke klingen - aber von der Leyens Rhetorik ist nicht ohne Tücken, denn sie lässt Moskau übermächtig, Europa aber verletzlich wirken.
Wie schlimm? Im Magazin Foreign Affairs warben vier Fachleute für einen entspannteren Umgang mit Desinformation. In Kürze: Eine ganze Branche sei entstanden – Kommunikationsagenturen, Nichtregierungsorganisationen und Think-Tanks – deren Geschäftsmodell es sei, Desinformation zur Mega-Bedrohung hochzureden. Die tatsächlichen Auswirkungen von Desinformationskampagnen seien derweil begrenzt.
Sortieren wir uns: Dass Russland versucht, Demokratien zu schwächen und Extremisten zu stärken, ist unbestritten. Der Extremismus in Europa ist dennoch zuerst ein Gewächs aus dem heimischen Garten. Moskaus Macht reicht nicht aus, um unsere Gesellschaft fernzusteuern, auch wenn die Kreml-Propaganda uns genau das glauben machen will.
Druck und Wirkung: Seit Beginn des Angriffskriegs erlässt die EU etwa immer neue Sanktionen gegen Kreml-Medien, seit Mittwoch auch gegen das Online-Portal „Voice of Europe“, das zuletzt Aufmerksamkeit erfuhr, weil es Berichten zufolge den AfD-Politiker Peter Bystron geschmiert hatte. Die deutschen Behörden nehmen den Fall nicht einfach hin: Am Donnerstagmorgen hob der Bundestag die Immunität Bystrons auf. Beamte des bayerischen Landeskriminalamts durchsuchten sein Bundestagsbüro sowie weitere Objekte in Deutschland und auf Mallorca. Die Generalstaatsanwaltschaft München hat Ermittlungen wegen des Anfangsverdachts der Bestechlichkeit und der Geldwäsche eingeleitet.
Aufgemerkt: Scharfe Reden westlicher Politiker können Russland in die Hände spielen, weil sie die Grenzziehung erschweren zwischen Demokraten und Autokraten. „Ich glaube, Europa braucht jetzt eine eigene Struktur zur Bekämpfung ausländischer Einmischung“, sagte von der Leyen etwa am Dienstag. Am selben Tag verabschiedete das Parlament in Georgien ein Gesetz, das Medien und Zivilgesellschaft an die Kette legen soll, offiziell auch hier mit dem Ziel, ausländische Einflussnahme zu bekämpfen.
Die EU kritisierte das Gesetz scharf. Wenn sie glaubwürdig bleiben will als Werbeträgerin für die Demokratie, wird die EU einen Weg finden müssen, sich von den Autoritären abzugrenzen – nicht nur im Handeln, sondern auch in der Rhetorik.
Die Dominanz der AfD auf fast allen Plattformen ist ungebrochen. Die Ausnahmen: Instagram und X/Twitter. Dort haben die Grünen die höchste Gesamtzahl an Followern. Zumindest noch. Denn die Follower-Zahl der AfD wuchs auf Instagram und X/Twitter zwischen April und Mai (15.04. - 15.05.) schneller als die irgend einer anderen Partei.
Anfang Februar kam die Stunde der Berater: Analysen zeigten, dass die AfD die anderen Parteien auf TikTok weit hinter sich ließ, viele Medien berichteten. Verwunderlich daran ist, dass das jemanden verwunderte.
Immerhin: In den vergangenen Monaten haben sich die anderen Parteien ins Zeug gelegt. Der Kanzler kam zu TikTok, mit der Kampagne #ReclaimTikTok versuchten Abgeordnete und Aktivisten, der Hashtag verrät es, die Plattform zurückzuerobern. Benjamin Läpple untersucht von nun an wöchentlich, ob diese Bemühungen verpuffen, oder ob Demokraten tatsächlich Fuß fassen können auf einer Plattform, die als populistische Wutmaschine gebaut zu sein scheint.
Trotz Cringe: Den Zahlen nach ist der TikTok-Auftritt von Olaf Scholz bislang ein Erfolg. Mit 225.000 Followern und zwei Millionen Likes verbuchte der Account in kurzer Zeit knapp 50 Millionen Aufrufe. Ob das viel ist? Tatsächlich, selbst im TikTok-Universum: Der AfD-Account mit der höchsten Follower-Zahl (420.000) ist der Account der AfD-Fraktion. Der hat seit Mai 2022 insgesamt knapp 120 Millionen Aufrufe gesammelt. Der Kanzler verbucht zudem mehr Views als alle Accounts der im Bundestag vertretenen Fraktionen und Parteien.
Das tut weh: Nicht nur Scholz-Fans hinterlassen Kommentare unter den Kanzler-Videos – eine Mehrzahl der durchschnittlich 2250 Kommentare unter Scholz-Videos sind nach einer automatisierten Auswertung entweder neutral, spöttisch oder sogar richtig gemein. Den hohen Traffic hat der Bundeskanzler also auch seinen Hatern zu verdanken.
Lichtblick für die Sozialdemokraten: Ihr Fraktions-Account konnte 2024 bislang insgesamt mehr Likes und Views verbuchen als der Account der AfD-Fraktion. Grund war jedoch vor allem, dass die SPD fast doppelt so viele Videos postete wie die AfD. Im Median sammelte die in Teilen rechtsextreme Partei dafür aber mehr als das Zehnfache an Likes und mehr als das Siebenfache an Views ein.
Die Abgeordneten der AfD führen in Bund, Ländern und auch im Europaparlament nach wie vor deutlich: Acht der zehn größten Accounts von Bundestagsabgeordneten nach Followern gehören zur AfD. Im Europaparlament führt Maximilian Krah die Liste der reichweitenstärksten deutschen Accounts an, gefolgt vom Spitzenkandidaten der Satire-Partei Martin Sonneborn.
Atlantikwelle
Im US-Wahlkampf tobt der Informationskrieg wie nirgendwo sonst. Seien Sie gerüstet: So sieht's aus.
Selbst schuld: The Atlantic warnt, dass autokratische Regime den Informationskrieg gewinnen würden. Schuld daran sei die amerikanische Öffentlichkeit mit ihrer Gier nach Drama.
Kampf um TikTok, US-Ausgabe: Die New York Times erklärt, warum ein Verbot von TikTok in den USA tatsächlich wahrscheinlich ist und wie es umgesetzt werden könnte.
Die Eitelkeit der Hacker: WIRED interviewt ein russisches Hacker-Kollektiv, das ein US-Wasserversorgungssystem angegriffen hat, und kommt zu dem Schluss, dass die Gruppierung vor allem auf eines aus ist: PR.
Warnen vor den Warnern: Vier Expertinnen und Experten sehen einen „Bedrohungshype“, der dem Kreml in die Hände spielen und die Auswirkungen seiner Propaganda auf die US-Regierung überzeichnen würde. In Foreign Affairs.
MTG verliert: Die Washington Post berichtet, dass die Republikanerin Marjorie Taylor Greene, die regelmäßig krudeste Verschwörungstheorien verbreitet, mit einem Umsturzversuch gegen den Vorsitzenden des Repräsentantenhauses gescheitert ist.
Antisemitismus im Kreml-Auftrag: Die russische Einflussoperation „Doppelgänger“ versuche in den USA, die Stimmung rund um die pro-palästinensischen Campus-Proteste anzuheizen, berichtet WIRED.
Unterstützt von Tim Frehler, Matthias Punz und Gabriel Rinaldi. Redigiert von Florian Eder.