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Nutzungsrechte erwerbenWie die AfD im Wahlkampf unter der Gürtellinie kommuniziert
Freitag, 31. Mai 2024Von Felix Kartte
Guten Tag. Das Böse, Hannah Arendt hat uns gewarnt, kann ziemlich banal daherkommen. In Gestalt etwa eines Party-Hits, so erging es ja dem Techno-DJ Gigi D’Agostino. Ganz klar ist bislang nicht, wie der „L’amour toujours“ zum Soundtrack der Ausländerfeinde wurde, ob es sich um eine geplante Kampagne handelt.
Was wir wissen: Das rechtsextreme Remake wurde vom AfD-Umfeld zumindest populär gemacht. Schon im Januar kam es in Bayern zu Ermittlungen wegen Gesangs am Rande eines AfD-Parteitags, seit Wochen feixen AfD-nahe Accounts über den sogenannten „verbotenen Ohrwurm“.
Das erinnert an das Projekt Schulhof-CD: Dass Rechtsextreme auch auf Musik zurückgreifen, um gerade junge Menschen für ihre Ideologie zu gewinnen, ist nicht neu. Schon ab 2004 versuchten etwa die NPD oder die Vereinigung Freie Kameradschaft wiederholt CDs mit rechtsextremen Liedern an Schulen zu verteilen.
Was jetzt anders ist: Damals, also vor TikTok und Instagram, konnten Rechtsextreme nicht mal träumen von der Reichweite, die ihnen die Plattformen heute bescheren. Damals lauerten sie im Schatten der Schulhofmauern, verkauften ihre Ideologie als kulturelles Gegenangebot, bis jemand die Polizei rief.
Heute können Extremisten in kurzer Zeit Millionen erreichen: Sie kapern den kulturellen Mainstream mit seinen Ausdrucksformen. So ist das Lied „L’Amour toujours“ auch als Folge des öffentlichen Aufschreis endgültig zur Chiffre geworden für ausländerfeindliche Ideologien. AfD-nahe Accounts auf TikTok oder Telegram unterlegen ihre Videos schon länger mit der Melodie von Gigi D’Agostino.
Die rechtsextremen, und womöglich strafbaren, Parolen tauchen nicht mehr auf. Sie auszusprechen, ist auch gar nicht mehr nötig.
Angriff
Věra Jourová, Vizepräsidentin der EU-Kommission, ist ins Silicon Valley gereist, wo sie Big Tech vor der Europawahl auf die Finger schauen will.
Seit fast zehn Jahren liegt der private Fernsehsender TV2 in der Hand von Vertrauten des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán. Nun expandiert das Flaggschiff für besonders regierungstreue Meldungen nach Polen, wo es der heutigen Opposition helfen soll, der neuerdings wieder Rechtsstaat und freie Presse entgegentreten.
Die estnische Premierministerin Kaja Kallas, deren Hoffnung auf das Amt der nächsten EU-Außenbeauftragten als durchaus begründet gelten kann, warnt vor russischer Desinformation auf Telegram und fordert die EU-Kommission auf, gegen den Messenger-Dienst vorzugehen.
Kommende Woche wird in der EU gewählt und laut Follow The Money war von all jenen, die eine realistische Chance auf einen Sitz haben, fast jeder fünfte Kandidat schon einmal in einen Skandal verwickelt.
Obwohl RT seit dem Frühjahr 2022 in der EU verboten ist, verbreiten sich Inhalte weiter. Das laut einem Bericht des German Marshall Funds, der Universität Amsterdam und des Institute for Strategic Dialogue, wonach Repliken von RT-Artikeln über Hunderte Websites verbreitet worden sind.
Überall in Europa sind Rechtsaußen-Parteien beliebt bei jungen Wählern. In Frankreich wollen laut einer Umfrage von dieser Woche 34 Prozent der Wähler zwischen 18 und 29 bei der Europawahl für den Rassemblement National von Marine Le Pen stimmen.
Wochenlang haben die demokratischen Parteien, von Linke bis CSU, an Regeln für einen fairen Wahlkampf gearbeitet. Ende vergangener Woche war es so weit: Man habe sich auf einen gemeinsamen Verhaltenskodex einigen können, teilten die Generalsekretäre und Bundesgeschäftsführer der Parteien mit. Manche Parteikollegen aber schienen es nicht abwarten zu können, die neuen Regeln zu brechen.
Digitale Brandmauer: In dem Kodex verschreiben sich die Parteien etwa einer „sachlichen Diskussion und Respekt im Miteinander“. Dessen ungeachtet bescheinigte die FDP-Spitzenkandidatin zur Europawahl, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in einem Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung, er habe „geradezu autistische Züge“. Die SPD beschwerte sich, genau wie Verbände, die autistische Menschen vertreten. Strack-Zimmermann entschuldigte sich bei Betroffenen – nicht jedoch bei Scholz oder seiner Partei.
Hold my beer: Auch die Sozialdemokraten griffen diese Woche ordentlich daneben. Als Reaktion auf das Sylt-Video posteten sie auf Instagram ein schwarz-rot-goldenes Banner und dazu: „Deutschland den Deutschen, die unsere Demokratie verteidigen.“ (Der Kodex beteuert als Ziel die Bekämpfung von Extremismus.) Kurz darauf die Entschuldigung: Man habe „nicht geschafft, einen Ton zu treffen, der alle mitnimmt“. Den scheint der CSU-Generalsekretär Martin Huber gar nicht erst anzustreben: „Grüne Besserwisser und Klugscheißer gehen den Menschen auf die Nerven“, postete er auf X/Twitter.
Dennoch: Insgesamt ist der Ton unter den Parteien in Deutschland ziviler als etwa in den USA – mit Ausnahme vielleicht der AfD. Das legt die Datenanalyse von Benjamin Läpple nahe: Mit Verfahren des maschinellen Lernens hat er 8.221 X-Posts analysiert, die Bundestagsabgeordnete im Monat Mai abgesetzt haben.
Die Untersuchung zeigt: Manche Parteien kommunizieren emotionaler als andere – und eine, die AfD, äußert sich viel öfter vulgär, beleidigend, oder auch bedrohlich als ihre Mitbewerberinnen.
Einige weitere Befunde im Schnelldurchlauf: Abgeordnete des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) sowie der AfD schreiben die wütendsten Posts auf X. Anders die Liberalen – trotz Strack-Zimmermann: Neben den Unionsparteien wählen sie am seltensten wütende Worte.
Ekel und Angst: Ekel transportieren AfD und BSW häufiger als die anderen Parteien. Worte, die mit Angst verbunden sind, finden sich ebenfalls am häufigsten beim BSW. Etwa gleichauf sind die Sozialdemokraten. Am seltensten tauchen solche Wörter hingegen in den Posts von Unions-Abgeordneten auf – überraschend eigentlich für die Partei der inneren Sicherheit.
Freude und Enthusiasmus: SPD und Grüne kommunizieren am meisten Freude, während die Liberalen besonders viel Enthusiasmus zeigen.
Hoffnung: Die FDP verbreitet fast doppelt so häufig Hoffnung wie die AfD. Die Ampelparteien und die Union zeigen insgesamt am meisten Hoffnung, während Linke, BSW und AfD eher schwarz malen.
Viel wurde gewarnt vor dem vermeintlich desaströsen Schaden, den KI-Tools wie ChatGPT anrichten könnten, wenn sie in die falschen Hände gerieten – gerade vor der Europawahl. Zuweilen kommt da eine Untergangsstimmung auf, die gar nicht durch Evidenz gedeckt ist.
Problem erkannt: Gestern Abend meldete sich die ChatGPT-Mutter OpenAI erstmals selbst zu Wort, mit einem Bericht über den Missbrauch des Chatbots für staatliche Einflussoperationen, die das Unternehmen erkannt und unterbunden haben will. OpenAI zufolge haben verschiedene prorussische und prochinesische Akteure, aber auch ein israelisches Netzwerk in den vergangenen Monate ChatGPT eingesetzt, um Desinformation maschinell zu produzieren und digitale Debatten zu manipulieren – insbesondere auf der Plattform X.
Virtuelle Selbstgespräche: Die staatlichen Akteure hätten mit Hilfe der KI nicht nur unzählige, kurze Social-Media-Kommentare produziert – die dem Anschein nach von echten Menschen abgesetzt wurden – sondern gleich auch die Antworten dazu. So seien ganze Konversationen künstlich erzeugt worden, etwa um Stimmung gegen Muslime zu machen.
Das Fazit von OpenAI, nicht ganz überraschend: Die Desinformationskampagnen, die sich ChatGPTs bedient hätten, seien kaum wirkungsvoll gewesen, weil sie nur eine geringe Reichweite entwickelt hätten und OpenAI seine Tools gut gegen Missbrauch gewappnet habe.
Experten hätten da doch noch ein paar Fragen: Rolf Fredheim leitet das Analyse-Unternehmen Markolo Research, hat lange die NATO wissenschaftlich beraten. Er begrüßt, dass OpenAI mit seinem Bericht Erkenntnisse darüber liefert, wie Akteure im Umfeld des Kremls Tools wie ChatGPT im Informationskrieg einsetzen. „Allerdings versucht OpenAI ziemlich angestrengt, das Ausmaß und die Wirkung dieser Manipulationsversuch kleinzureden“, sagt Fredheim. Die Daten, die der Bericht liefere, seien aber zu begrenzt, um diesen Schluss zuzulassen. Wichtig zu wissen wäre etwa, wie viele Menschen tatsächlich mit den manipulativen Inhalten in Berührung gekommen sind und ob die Bedrohungsakteure ihre Aktivitäten insgesamt ausgeweitet hätten.
Verteidigung
Als Chef der Bundesnetzagentur ist Klaus Müller dafür zuständig, den Digital Services Act in Deutschland durchzusetzen – das neue Regelwerk also, mit dem die EU Plattformen wie Tiktok oder Instagram unter eine stärkere Aufsicht stellen will. Müller sagte SZ Dossier, gerade Tiktok tue aktuell womöglich nicht genug: „Es gibt die klare Erwartung der EU-Kommission wie auch der Bundesnetzagentur, dass Tiktok sich an die eigenen Regeln zur Integrität der Wahlen hält. Hier gibt es unverzüglichen Verbesserungsbedarf.“
Müller reagiert auf unsere exklusive Recherche: Vergangene Woche hatten wir berichtet, wie eine „Tiktok Guerilla“ ihren Helden Maximilian Krah, den AfD-Spitzenkandidaten für die Europawahl, gegen TikToks Strafmaßnahmen verteidigte.
Recap: Im März hatte TikTok die Reichweite von Krahs Account gedrosselt – unter anderem, weil er rassistische Verschwörungstheorien verbreitet hatte. Krah wollte sich aber nicht geschlagen geben und rief seine Follower dazu auf, TikToks Beschränkungen zu umgehen, indem sie seine Videos über ihre privaten Accounts auf die Plattform stellten. Rund um den Aufruf entstand eine ganze „TikTok Guerilla“ – AfD-nahe Influencer verlosen etwa iPhones an User, die es schaffen, TikToks Maßnahmen auszuhebeln und Krah möglichst viele Views und Likes verschaffen.
Weiter so: Auch nach unserem Bericht setzt die AfD-Guerilla ihre Aktionen auf Tiktok fort. Diese Woche werden sogar zwei iPhones verlost, Krah-Videos erzielen weiterhin Hunderttausende Views. Auch mindestens ein Video, in dem Krah vor dem vermeintlichen „Großen Austausch“ warnt und damit die Verschwörungstheorie verbreitet, für die Tiktok ihn ursprünglich bestraft hatte, ist weiterhin auf der Plattform zu finden.
Tiktok reagiert: Letzte Woche wiesen wir Tiktok auf das Treiben der Krah-Jünger hin, nun erhielten wir eine Antwort: Zur AfD-Guerilla konkret wollte sich das Unternehmen nicht äußern, gab aber an, das Video gelöscht zu haben, in dem Krah die Regenbogenflagge mit der „Vernichtung der Familie“ gleichsetze.
Atlantikwelle
Wie viele Amerikaner braucht es, um die Arbeit einer ganzen Armee russischer Computer-Trolle zu erledigen? Wenn man einem Bericht der New York Times glaubt: einen einzigen. Ein 51-jähriger ehemaliger Deputy Sheriff, der in Moskau politisches Asyl erhalten hat, ist demnach heute ein wichtiger Akteur in Russlands Desinformationsoperationen gegen den Westen.
Auch das FBI hat intern genauer hingeschaut: Die Sicherheitsbehörde hat die Verbindungen zu mindestens einer Handvoll von Informanten gekappt und Dutzende von anderen gewarnt, berichtet ebenfalls die New York Times. Offenbar hatte es Bedenken gegeben, diese könnten mit russischer Desinformation in Verbindung stehen.
Die Washington Post berichtet, dass Wahlbeauftragte und Forscher von Texas bis Taiwan auf eine neue Strategie gegen Desinformation setzen: „Prebunking“. Dabei werden die Menschen – ähnlich zu Impfstoffen – kleinen Dosen an Fehlinformationen ausgesetzt, zusammen mit einer Erklärung. Die Wähler sollen dadurch „mentale Antikörper“ entwickeln. Google macht das auch in Europa.
Eine ZDF-Doku spürt nach, wie das Netzwerk rund um Viktor Orbán Influencer und Bildungseinrichtungen einsetzt, um neu-rechte Ideologien im Westen zu verbreiten.
Der MAGA-Hardliner und ehemalige republikanische Präsidentschaftskandidat Vivek Ramaswamy ist neuester aktivistischer Investor bei BuzzFeed – und sorgt gleich für Schlagzeilen. In einem Brief an den BuzzFeed-Vorstand empfahl er, große Teile der Belegschaft zu entlassen. Stattdessen solle man Leute wie den ehemaligen Fox-News-Moderator Tucker Carlson einstellen, berichtet CNN.
In den kommenden vier Wochen informieren wir hier jeden Freitag über den Infokrieg im Internet rund um die Europawahl. Wenn Ihnen diese E-Mail weitergeleitet wurde, hier entlang zur kostenfreien Registrierung.
Danke: Dieses Briefing wurde produziert von Gabriel Rinaldi und redigiert von Florian Eder.