Tiktok: die überschätzte Plattform
Süddeutsche Zeitung Dossier
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Freitag, 21. Juni 2024
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Von Felix Kartte

mit Christina Brause und Benjamin Läpple

Schnelldurchlauf:

Die Woche im Infokrieg +++ Tiktok: die überschätzte Plattform +++ Chinas Desinformation in Deutschland +++ Aufschwung in der Angstwirtschaft



Angst treibt an. Die Angst etwa, die Deadline zu reißen, wenn der Newsletter erscheinen muss. Die Angst, sie treibt auch Deutschland an. Im Internet tobt ein Informationskrieg, sechs Wochen lang haben wir ihn uns angeschaut. Deutlich wurde: Es geht nicht um die Wahrheit und auch nicht einfach um Reichweite. Gekämpft wird um unsere Ängste.


Diesen Kampf scheinen die Grünen zu verlieren, denn der Klimawandel beunruhigt die Deutschen offenbar nicht mehr ausreichend, um sie an die Wahlurnen zu treiben. Zu abstrakt die Bedrohung, es fehlt das klare Feindbild. Anders ergeht es denen, die mit ganz konkreten Ängsten spielen: Angst vor Terror, Krieg und Entbehrung, Angst vor den Anderen.


Es überrascht nicht, dass die Partei, die vor allem Angst im Angebot hat, im Internet stärker mobilisieren konnte, als alle anderen Parteien. Daran haben auch die Gegenkampagnen der demokratischen Konkurrenz nichts geändert. Seit dem fünften Mai etwa, als wir mit unseren Untersuchungen begannen, gewann keine Partei so viele Anhänger in den sozialen Medien hinzu wie die AfD: Mehr als 13.000 waren es auf X, nennen wir es Twitter, und sogar mehr als 20.000 jeweils auf Instagram und Tiktok.


Als politische Bundesgeschäftsführerin war Emily Büning für den Europawahlkampf der Grünen zuständig. „Wir haben zu spät auf Tiktok gesetzt und die Plattform zu lange den Rechten überlassen“, sagte sie SZ Dossier. Auch im Bundestagswahlkampf wird die Partei deshalb auf die Plattform setzen: „Der digitale Wahlkampf nimmt eine immer größere Rolle ein, viele Menschen erreichen wir vor allem über die sozialen Medien“, sagte Büning.


Von der AfD zu lernen, das komme aber nicht in Frage: „Wir werden als Partei auch unsere Social-Media-Strategie ausgiebig evaluieren. Klar ist aber: Wir werden nicht davon abrücken, die Menschen mit Argumenten und auf der Basis von Werten anzusprechen, auch bei Social Media.“


Ohnehin werde Tiktok allein die Grünen aber nicht aus dem Tief führen: „Die Frage ist doch: warum finden rechtspopulistische Inhalte bei vielen jungen Leuten so viel Zuspruch?“ Corona, Klimakrise, Kriege und Inflation hätten die Jüngeren in Sorge versetzt, das Vertrauen in die Politik habe gelitten. Außerdem hätten soziale Medien selbst zur Polarisierung von Debatten beigetragen: „Das hängt mit den Formaten und den Algorithmen der Plattformen zusammen und der Tatsache, dass zahlreiche Akteure, von den Rechtsextremen mit der AfD bis hin zu ausländischen Akteuren, diese Räume explizit nutzen, um Debatten zu verschärfen, Gesellschaft zu spalten“, sagte Büning.


Mit dieser Ausgabe verabschiedet sich das Schattenspieler-Team fürs Erste. Danke für Ihr Interesse und vielleicht auf ein andermal – bleiben Sie uns gewogen.

Angriff

1.

Die Woche im Infokrieg

Doppelt schädlich: Schon im September 2022 wurde die prorussische Desinformationskampagne „Doppelgänger“ aufgedeckt: Webseiten etablierter Medien wurden nachgebaut, gefälschte Artikel im Netz verbreitet. Auch im Wahljahr 2024 wird die Masche weiterhin eingesetzt: EUvsDisinfo hat nun einen Bericht zu den Aktivitäten rund um die Europawahl veröffentlicht.


Das können wir auch – dachten sich offenbar Anhänger der Terrororganisation IS. Laut dem Institute for Strategic Dialogue (ISD) produzierten sie Videos, die bekannten globalen Nachrichtensendern wie CNN und Al Jazeera nachempfunden und als solche ausgeflaggt waren. In den Videos ging es unter anderem auch um den Anschlag auf eine Konzerthalle nahe Moskau im März, bei dem mehr als 140 Menschen starben. Die Fake-Videos reklamierten den Anschlag – den zuvor russische Desinformation der Ukraine in die Schuld schieben wollte – für den IS.


Expertin ins Parlament: Bei der Europawahl hat die neue ungarische Oppositionspartei Tisza, die diese Woche in die EVP-Fraktion aufgenommen wurde, sieben Sitze geholt. Zu den sieben Parlamentariern gehören neben Partei-Chef Péter Magyar auch die Meta-Produktberaterin Dóra Dávid. Magyars Reichweite und Reaktionszahlen auf Facebook sollen von Februar bis Juni die von US-Präsident Joe Biden übertroffen haben.


Dumme KI: Seit Large Language Models massenkompatibel wurden, wird vor KI-Chatbots gewarnt. Nun hat das Portal Newsguard zehn der führenden Chatbots getestet und fand heraus, dass die KI-Assistenten in 32 Prozent der Fälle russische Desinformationsnarrative verbreiteten.


Wie gefährlich ist Desinformation wirklich? In einem aktuellen Artikel geht Nature dieser Frage nach: Desinformation, so die These, kann zwar menschliches Verhalten beeinflussen – bei Haltungen und Meinungen sei das aber nicht so einfach, wie oft angenommen wird.

2.

Tiktok: die überschätzte Plattform

Fraglich, ob sich die Grünen einen Gefallen tun, wenn sie ihre politische Kommunikation nun auf Tiktok verlagern, höchstens ein Jahr vor Beginn des nächsten Bundestagswahlkampfs.


Denn vielleicht ist die Plattform gar nicht die politische Wunderwaffe, die PR-Berater und manche Partei-Strategen in ihr sehen wollen. Tatsächlich will die große Mehrheit der TikTok-Nutzer nämlich gar keine Politiker in ihren Feeds sehen, das legen Erhebungen aus den USA und Deutschland nahe. Laut PEW Research Center suchen in den USA etwa 95 Prozent der Nutzer nach Unterhaltung auf der Plattform – nur 36 Prozent wollen auf politischen Content sehen. In Deutschland ist das Bild ähnlich: Nur neun Prozent kommen häufig zu TikTok, um sich über das politische Geschehen zu informieren, wie eine Studie der Stiftung Neue Verantwortung besagt.


Hinzu kommt: Wer Wähler für Grüne Positionen begeistern will, fischt auf Tiktok vielleicht schlicht im falschen Becken. Anders als etwa Instagram scheint die Plattform vorwiegend Nutzergruppen anzuziehen, die sich auf dem politischen Spektrum rechts verorten: Darauf deuten Zahlen einer neuen Umfrage der Universität Mainz hin. Es zeige sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen Informationsnutzung und Parteineigung: Junge Leute, die sich den Grünen zugeneigt fühlen, beziehen Informationen am liebsten von Instagram, während junge AfD-Sympathisanten sich lieber auf Tiktok informieren.


Unsere eigenen Untersuchungen scheinen dieses Bild zu bestätigen: In den Wochen vor der Europawahl bliesen die Grünen zwar zum Marsch auf Tiktok. Sie haben es aber nicht geschafft, die Übermacht der AfD auf Tiktok zu brechen – nach keiner Metrik.

#ReclaimTikTok oder Ende Gelände?

Unsere Analyse von 154 AfD-Accounts auf TikTok zeigt, dass die Partei in Summe seit Herbst 2019 knapp 750 Millionen Views und mehr als 45 Millionen Likes erzielt hat. Zum Vergleich: mit 136 Accounts haben die Grünen bisher knapp 41 Millionen Views und zwei Millionen Likes erreicht. Die AfD hat mit einer ähnlichen Zahl von Accounts also fast zwanzigmal mehr Reichweite erzielt als die Grünen. An diesen Verhältnissen hat sich während des Europawahlkampfes wenig geändert: Zwar waren die Grünen mit fast 1200 Videos sehr aktiv, kamen mit knapp 11,5 Millionen Views jedoch nur auf etwa ein Viertel der Views der AfD.


Dass die Grünen trotz allem auch auf Tiktok kurzfristige Erfolge feiern können, liegt – wieder einmal – an Robert Habeck. Auch wenn der Vizekanzler erst seit Ende Mai auf der Plattform aktiv ist, hat er schon jetzt den größten Account nach Followern (knapp 33.000). Zur Top Five gehören zudem der Chef der NRW-Grünen, Tim Achtermeyer, die grüne Parteichefin Ricarda Lang, der Account der Bundesgrünen und Habecks Staatssekretärin im Wirtschaftsministerium Franziska Brantner.

3.

Chinas Desinformation in Deutschland

Es ist erst rund zwei Monate her, dass Chinas Spionage in der EU ein Gesicht bekommen hat. Das von Jian G., einem chinesischstämmigen deutschen Mitarbeiter des AfD-Politikers Maximilian Krah im Europaparlament. Der Generalbundesanwalt hatte ihn festnehmen lassen, das Parlament ihn suspendiert – weil er EU-Interna an China weitergegeben haben soll. Geredet und geschrieben wurde seitdem viel über die AfD. Weniger über die Bedrohung, die von China ausgeht.


Influencer für ein makelloses Trugbild: Taiwan sei zwar seit Jahren das oberste Ziel chinesischer Einflussnahme, sagte Katja Drinhausen vom Mercator Institute for China Studies (MERICS). Doch auch in Deutschland und anderen europäischen Ländern ist China aktiv. Es gab mehrere Fälle in Europa, bei denen Influencer von chinesischen PR-Organisationen kontaktiert wurden, um ein positives Bild Chinas zu verbreiten, wie etwa der Fall MrWissen2go in Deutschland. Zudem arbeiten ausländische Studierende und Content-Creator in China teils für chinesische Staatsmedien, um ein künstliches Gegengewicht zu kritischen Stimmen zu schaffen.


China setzt auf viele Kanäle: Beobachten, so die Expertin, könne man das auf jeder Plattform, insbesondere aber auf X/Twitter und Youtube. Und Tiktok? Die globale Kommunikations-App chinesischen Ursprungs steht spätestens seit Donald Trumps Versuch, sie in den USA zu verbieten, stark unter Beobachtung. „Man muss aber aufpassen, nicht allein auf ein Unternehmen zu fokussieren“, sagte Drinhausen. Das verstelle den Blick auf die Vielschichtigkeit der chinesischen Strategie und den Umfang der Aktivitäten auf verschiedenen Plattformen.


Eliten umgarnen statt Chaos stiften: Chinas Strategie variiert je nach Land und Lage. Deutschland ist für Peking ein wichtiger Handelspartner. „Daher möchte China diese Beziehungen so lange wie möglich nicht gefährden“, sagte Drinhausen. Große Desinformationskampagnen, die Berlin zu einer Reaktion zwingen würden, wären kontraproduktiv. Im Gegensatz zu Russland erhoffe sich China auch nicht, westliche Staaten von innen zu destabilisieren, sondern könne stattdessen wirtschaftliche Drohmittel einsetzen. „In Deutschland versucht China daher, die öffentliche Meinung direkt über Eliten aus Wirtschaft und Politik zu beeinflussen.“


Warum tun, was Russland schon erledigt? Noch ein Grund, der erklärt, warum vergleichsweise selten von chinesischer Desinformation zu hören ist: Peking könne sich oft zurücklehnen und Moskau die Arbeit machen lassen. Die beiden Regime unterstützten sich sogar gegenseitig: Chinas Staatsmedien verbreiteten vielfach Kreml-Positionen und Desinformation weiter, teils im Rahmen von Kooperationsvereinbarungen mit russischen Medien. „Da wird quasi Narrativ-Hilfe geleistet“, sagte Drinhausen. Zwar teste die chinesische Regierung durchaus neue Möglichkeiten und Wege der Einflussnahme – experimentiere beispielsweise mehr mit Inhalten in Landessprachen, Bildern und Videos, aber auch Desinformation. Beim destruktiven Messaging sei China jedoch noch in der Lernphase und schaue sicher sehr genau an, was Russland mache.


Persönliche Netzwerke statt Social Media: Aktuell, so Drinhausens Einschätzung, habe China es jedoch gar nicht nötig, alle diese Instrumente einzusetzen. Stattdessen konzentriere sich Peking auf den nicht-digitalen Raum. 2023 wurden Delegationen linker und rechter Parteien nach China eingeladen. Das Ziel: neue Fürsprecher in der deutschen Politik zu finden. Wie erfolgreich die Volksrepublik damit ist, zeigt ein Blick in arabische Länder. Dort ist der Rückhalt für China zuletzt stark gestiegen. Das verwundert, wenn man etwa an die Umerziehungslager in der Region Xinjiang denkt. „China hat seit Jahren daran gearbeitet, mit persönlichen Kontakten und wirtschaftlichen Anreizen glaubhaft zu vermitteln, dass Berichte über die Uiguren westliche Desinformation seien.“ Um westlichen Vorwürfen mit Blick auf Xinjiang etwas entgegenzusetzen, würden bewusst Menschen aus Ländern mit einer großen muslimischen Bevölkerung wie in Indonesien angesprochen.

4.

Aufschwung in der Angstwirtschaft

Letzte Woche haben wir über die Anzeigenkampagne der Epoch Times Deutschland berichtet: Mit Angst- und Endzeit-Motiven erreicht das populistische Online-Portal auf der Plattform X Millionen Nutzer.


Die Angst: Sie ist nicht nur der Treibstoff politischer Kampagnen im Netz. Mit ihr lässt sich auch vortrefflich Geld verdienen: Das zumindest ist offenbar die Rechnung des Familienunternehmens Kettner Edelmetalle, mit Sitz in Villingen-Schwenningen.


Systemcrash, Inflation, Bürgerkrieg: Mit diesen vermeintlich drohenden Horrorszenarien wirbt im Internet die Firma Kettner, die eigentlich Schönes und Glitzerndes vertreibt – Gold und Silber nämlich, als Investment in die finanzielle Sicherheit. Die unzähligen Anzeigen, die Kettner Edelmetalle etwa auf Facebook und X schaltet, verbreiten in großem Stil einschlägige Verschwörungstheorien, fragen etwa: „Überrollt uns der Great Reset wie eine unaufhaltsame Lawine?“ Globale Eliten planten, die Kontrolle über unsere Leben zu übernehmen – auch die Erzählungen der russischen Propaganda finden sich in vielen von Kettners Anzeigen.


What the… Seit Oktober 2022 hat Kettner Edelmetalle 4224 Anzeigen auf den Meta-Plattformen Facebook und Instagram ausgespielt und dafür rund 400.000 Euro ausgegeben, das zeigt unsere eigene Analyse. Damit liegt der baden-württembergische Goldhändler laut Metas Werbedatenbank auf Platz fünf aller Werbetreibenden, die politische Botschaften ausspielen – überboten nur etwa von der Kampagnenorganisation Campact, dem rechten Portal Nius oder den Grünen.


Gold für Elon: Auf der Plattform X, nennen wir sie Twitter, ist das ominöse Unternehmen ähnlich umtriebig: Allein 2024 hat Kettner bislang 58 Millionen Views und mehr als 40.000 Likes mit bezahlten Posts erzielt. Mindestens zehn der Kettner-Anzeigen hat X/Twitter selbst wegen der vermeintlichen Bewerbung unsicherer oder illegaler Produkte gelöscht – und die Plattform ist nicht gerade für eine sorgfältige Moderation der Inhalte bekannt.

Deutschland in Daten

Wer wächst auf Social Media?
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Atlantikwelle

5.

Bald auch bei uns

Sand ins Getriebe streuen: Das scheint derzeit das Motto einiger republikanischer Politiker und Aktivisten zu sein. Sie schickten Forschern diverser Universitäten, Denkfabriken und privater Unternehmen, die sich mit der Verbreitung von Desinformation befassen, Briefe und Vorladungen. Wer nicht schnell und umfassend genug antwortete, dem drohten juristische Schritte, berichtet die New York Times. Der Vorwurf der Republikaner: Die Forscher arbeiteten mit der Regierung zusammen, um konservative Online-Reden zu unterdrücken. Die Beschuldigten sprechen von einer Kampagne, die den Kampf gegen Desinformation untergrabe.


Drangsalierte Forschungsgruppe muss dichtmachen: Das Stanford Internet Observatory galt bisher als Institution in der Erforschung von Desinformation. Die Forschergruppe lieferte seit 2019 Echtzeit-Analysen zu viralen Wahlfälschungen und publizierte einige der einflussreichsten Analysen zu dem Thema. Diese Zeiten scheinen vorbei: Wie The Plattformer berichtet, wird es keine Analysen zu den diesjährigen Wahlen geben. Laut Washington Post haben zwei laufende Gerichtsverfahren und zwei Untersuchungen des Kongresses die Universität Millionen von Dollar an Anwaltskosten gekostet.


Die Sunscreen-Verschwörung: Die Corona-Pandemie hat weltweit deutlich gemacht, wie erbittert über Gesundheitsthemen gestritten werden kann. Ein guter Nährboden für Des- und Misinformation. So offenbar auch bei Sonnencreme. Wie NPR berichtet, sind Ärzte in den USA besorgt über Falschinformationen, die sich dazu in sozialen Medien verbreiten. Jüngste Umfragen deuteten darauf hin, dass viele jüngere Amerikaner auf diese Fehlinformationen hereinfallen.


Auf Facebook zuhause: Fake News sind auf Facebook noch immer ein gutes Geschäftsmodell. Wie gut, zeigt die New York Times anhand von Christopher Blair, der mit falschen Geschichten über die Demokraten vor ein paar Jahren schon bis zu 15.000 Dollar im Monat verdient haben soll. Nach einem zwischenzeitlichen Reichweiteneinbruch erhalten seine Beiträge heute mehr Interaktionen auf Facebook als je zuvor: 7,2 Millionen Interaktionen bereits in diesem Jahr, verglichen mit einer Million im gesamten Jahr 2021.


Das Dossier Schattenspieler wurde redigiert von Florian Eder und produziert von Gabriel Rinaldi.

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Florian Eder

Leiter SZ Dossier